StartseiteMagazinGesellschaft«Durch die Digitalisierung die Partizipation stärken»

«Durch die Digitalisierung die Partizipation stärken»

Der wiedergewählte Berner Stadtpräsident Alec von Graffenried will auch in seiner zweiten Legislatur unermüdlich für eine offene, inklusive Gesellschaft kämpfen und sie ausbauen. Ein Gespräch.

Seniorweb. Herr von Graffenried. Wie verändert die Corona-Krise unsere Alltagsgewohnheiten, unser Zusammenleben?

Alec von Graffenried. Wir müssen uns, ähnlich wie die Menschen in Asien, an Pandemien gewöhnen und werden dank den aktuellen Erfahrungen besser auf die nächste Pandemie vorbereitet sein. Was mich am meisten beeindruckt hat, ist die weltweite Gleichzeitigkeit der Krise, die Erfahrung, dass sich alle Menschen auf dieser Welt simultan mit Schutzkonzepten und -massnahmen beschäftigen mussten. Rund um den Globus wurde die Covid-Forschung intensiviert.

Die Masse an Informationen, die gleichzeitig weltweit verbreitet wurden, ist unglaublich. Bei mir hat dies eine Assoziation geweckt: Wenn man bei anderen globalen Herausforderungen mit derselben Intensität kommunizieren würde, liessen sich beispielsweise der Welthunger oder der Klimawandel viel effektiver bekämpfen.

Hat die Krise auch Auswirkungen auf unser Wertesystem, auf Solidarität, Gemeinsinn und Respekt?

Ich finde, die Solidarität zwischen den Generationen hat in dieser Krise bisher sehr gut funktioniert. Die Jugend, die selbst vom Virus weniger bedroht ist als die ältere Generation, musste sich sehr stark disziplinieren und grosse Einschränkungen im Freizeitverhalten hinnehmen. Je länger die Massnahmen dauern, desto öfter frage ich mich, wieviel wir den Jugendlichen noch zumuten können. Die Schliessung von Konzertlokalen, Bars, Freizeittreffs, das Partyverbot sind hart. Man raubt den 17-25jährigen praktisch ein Jahr ihrer Jugend. Wenn ich 40 Jahre zurückdenke, sind das intensive Erinnerungen, vor allem auch an Partynächte im Ausgang. Wir sollten uns überlegen, wie wir hier einen Ausgleich schaffen können.

Die Lebenserwartung von alten, multimorbiden Menschen ist eine völlig andere als die von 20- oder 30jährigen. Drängt sich hier nicht eine Differenzierung bei den Massnahmen auf?

Jedes Leben ist gleich viel wert. Deshalb geniessen alle grundsätzlich denselben Anspruch auf Schutz. Zwar hat die WHO einen Indikator entwickelt, der die menschliche Lebensqualität mit Bezug auf Alter sowie Gesundheitszustand berechnet und daraus ableitet, welche medizinischen Behandlungen gerechtfertigt sind und welche nicht. Dies ist aber eine rein ökonomische Betrachtung, geeignet für Kriegs- und Katastrophenereignisse, wenn weniger Raum für ethisches Abwägen besteht. Für mich steht fest, dass beim Schutz vor Covid keine Differenzierungen zwischen Alt und Jung gemacht werden dürfen. Und ich hoffe sehr, dass die entsprechenden Diskussionen in den vergangenen Wochen hier Klarheit geschaffen haben. Jeder Covid-Todesfall ist ein Todesfall zuviel.

Die Stadt Bern hat, zusammen mit Organisationen, die am Lebensende tätig sind, unter der Bezeichnung «Bärn treit – gemeinsam bis zuletzt» ein Netzwerk lanciert, mit der das Sterben enttabuisiert werden und das Lebensende gemeinsam getragen werden sollen. Eine Charta enthält Grundsätze und Aktivitäten einer «Compassionate City».  Beschleunigt das Corona-Virus den angestrebten Wandel in der Sterbekultur?

Es ist wichtig, dass man das Sterben in unserer Gesellschaft stärker thematisiert. Je mehr Bewusstsein vorhanden ist, desto wertiger wird das Leben für alle. Ich finde es auch gut, dass seit Ausbruch der Corona-Krise mehr Patientenverfügungen ausgefüllt werden. Als Nationalrat hatte ich einen Vorstoss lanciert, in welchem ich forderte, dass jeder und jede einen Patientenverfügung haben sollte. Der Bundesrat fand damals, das sei eine Überforderung der Bevölkerung und nicht zumutbar. Ich finde das nicht. Mindestens Menschen über 50 sollten sich vermehrt mit dem Sterben auseinandersetzen und ihre diesbezüglichen Wünsche und Vorstellungen in einer Patientenverfügung festhalten. Von einer aufgeklärten Gesellschaft erwarte ich, dass sie sich solchen Fragen stellt.

Stadtpräsident Alec von Graffenried in seinem Arbeitszimmer. Fotos: Peter Schibli

Seit Jahren leiden die Akut- und die Langzeitpflege unter einem dramatischen Pflegenotstand. Macht uns die Corona-Krise bewusst, dass nicht nur die Banken oder die grossen Flughäfen für die Schweiz systemrelevant sind, sondern auch eine funktionierende Pflege?

Natürlich sind das Gesundheitswesen sowie die Pflege für uns existentiell und deshalb systemrelevant. Ich verstehe zwar die gewerkschaftlichen Forderungen, dass die Arbeitsleistungen der Pflegenden gerechter abgegolten werden und stärker wertgeschätzt werden müssen. Das gilt aber nicht für alle Gesundheitsberufe. Innerhalb des Gesundheitssystems gibt es auch Fehlentwicklungen. Nicht alle  Berufsgruppen und Exponenten haben gleich viel zu sagen haben und es verdienen auch nicht alle gleich viel. Hier muss man ganz grundsätzlich einen Ausgleich schaffen, unabhängig von Corona.

Seit den jüngsten Wahlen ist das Berner Stadtparlament mehrheitlich weiblich. Hat das Corona-Virus den Prozess der politischen und wirtschaftlichen Gleichberechtigung der Frauen beschleunigt?

Der Frauenstreik und die kürzlichen Wahlen in der Stadt Bern haben gezeigt, dass diese Bewegung sehr kraftvoll ist, insofern war das gute Abschneiden der Frauen keine Überraschung. Indirekt dürfte sogar das Virus auch einen Beitrag dazu geleistet haben, dass sich die Rollenteilung von Frau und Mann rascher als erwartet verändert. Im Lockdown und danach haben viele Firmen, aber auch die öffentliche Verwaltung Homeoffice angeordnet. Diese Arbeitsform, fern vom Büro, wird nicht mehr verschwinden, was beiden Geschlechtern ermöglicht, Erziehung, Haushalt und berufliche Tätigkeit besser unter einen Hut zu bringen.

Die Corona-Krise hat die politischen Entscheidungsträger auf eine harte Probe gestellt. Zu den bisherigen Aufgaben kam plötzlich ein zeitintensives Krisenmanagement dazu, wie es bisher die wenigsten kannten. Ist es Zeit für Organisationsreformen bei Bund, Kantonen und in Gemeinden?

Das kann ich mir gut vorstellen. Es kamen ja auch schon erste Ideen auf, den oder die Bundespräsidentin zu entlasten, indem der Vizepräsident im Präsidialjahr mehr Aufgaben übernimmt. Ich finde, mehr Kontinuität und Konzentration auf bestimmte Funktionen täten unserem System gut. Der Föderalismus ermöglicht laborartige Bedingungen, in denen man durchaus mal etwas ausprobieren kann. So haben wir in den Städten ein Präsidialsystem, auf Kantons- und Bundesebene aber meist rotierende Präsidien.

Hat sich durch die ausserordentliche und die besondere Lage unsere Demokratie verändert?

Die Corona-Krise hat der Digitalisierung zu einem gewaltigen Schub verholfen. Ich erhoffe mir für die Stärkung unserer Demokratie sehr viel von der Digitalisierung. In der Stadt Bern machen wir mehr und mehr Meinungsumfragen im Netz und testen damit die Stimmung in der Bevölkerung, beispielsweise in der Frage der Gemeindefusion. An der Urne waren bisher Ja-Nein-Fragen üblich. Digital kann man Konsultativ-Abstimmung, gestaltende Abstimmungen, differenzierte Varianten-Abstimmungen durchführen. Dies stärkt den partizipativen Charakter unserer direkten Demokratie. Wir können damit die Bevölkerung besser einbeziehen und erzielen bei Abstimmungen höhere Erfolgsquoten. Direkte Demokratie kann viel mehr sein als auf dem Stimmzettel ja oder nein anzukreuzen.

Hat das Corona-Virus unsere politische Kultur verändert, indem mehr polarisiert wird?

Wir haben zwei Erfahrungen gemacht: Im Frühling reagierten Parteien und Bevölkerung sehr verständnisvoll und stützten die harten Massnahmen des Bundesrats. Jetzt erleben wir das Gegenteil. Die Positionen divergieren und je nach Branche und Betroffenheit sind die Akteure ausserordentlich zerstritten. Für mich ist es ein Rätsel, wie man so unterschiedlich reagieren kann. Eine Erklärung ist, dass die meisten von uns nach acht Monaten die Nase voll haben vom Virus und den Einschränkungen. Auch ich kann die zum Teil gehässigen Stellungnahmen nicht mehr hören. Wo ist die Einmütigkeit vom vergangenen Frühling geblieben?

Neben der Wirtschaft sind auch die Kulturschaffenden massiv von den Einschränkungen betroffen. War es berechtigt, die Wirtschaft mit Teillockerungen und Kompromissen zu schonen, kulturelle Angebote von Institutionen aber rigoros zu verbieten.

Ich finde, man hätte bezüglich Kultur differenzierter handeln müssen. Es gibt Kulturangebote ohne grosse Besucherströme, ohne Durchmischung oder Infektionsgefahr. Diesen Institutionen hätte man bei Vorliegen eines strengen Schutzkonzepts die Möglichkeit geben müssen, offen zu bleiben. In einem Museum Kunst zu geniessen, ist sicher weniger gefährlich als mit vielen anderen in einer Gondel oder einer Skihütte zu sitzen. Durch differenzierte Entscheidungen hätte man ein Zeichen für die Kultur setzen können.

Seit Ausbruch der Covid-Krise ist das Thema Klimawandel aus der öffentlichen Diskussion verschwunden. Wie sensibilisiert man die Corona-geplagte Bevölkerung wieder für Umweltanliegen?

Ich glaube nicht, dass das Bewusstsein für Klimafragen an Bedeutung verloren hat. Der Lockdown hat doch gerade gezeigt, dass es möglich ist, den steigenden CO2-Ausstoss zu reduzieren. Die EU hat während der Corona-Krise einen Green-New-Deal vorgestellt. Bei den amerikanischen Wahlen wurde der Klimaleugner abgewählt. Auf der ganzen Welt bemüht man sich, der Klimaproblematik die Aufmerksamkeit zurückzugeben, die sie verdient.

Nennen Sie mir zum Schluss die drei wichtigsten Ziele der neuen Legislatur in der Stadt Bern.

Die Corona-Krise nachhaltig zu bewältigen, vor allem auch wirtschaftlich, und das Leben wieder auf das Niveau vor der Krise hochzufahren, am liebsten klimafreundlicher und grüner, das steht für mich an erster Stelle.

In der Stadt Bern wollen wir die eingeleitete Strukturreform nun umsetzen. Eine Gemeindefusion ist für die Welt eine kleine Geschichte, aber für uns in der Stadtverwaltung ist es ein grosses Projekt.

Die Bevölkerung in der verstärkten Digitalisierung zu begleiten, ist mein drittes Legislaturziel.

Das übergeordnete Ziel bleibt jedoch, dass wir unermüdlich für unsere offene, inklusive Gesellschaft kämpfen und sie ausbauen wollen. Wenn dies gelingt, geht es uns allen besser.


Alec von Graffenried wuchs in Bern auf. Er studierte ab 1982 Rechtswissenschaften an der Universität Bern. Nach Abschluss seines Studiums war er als Anwalt tätig. Von 2000 bis 2007 amtete er als Regierungsstatthalter des Amtsbezirks Bern. Von 2007 bis 2016 war er Direktor der Losinger Marazzi AG, von 2010 bis 2017 Präsident von Bern Tourismus. Im Jahr 2007 wurde er als Grüner erstmals in den Nationalrat gewählt und bei den Nationalratswahlen 2011 bestätigt. Seit 2017 amtiert er als Vertreter der Grünen Freien Liste als Stadtpräsident von Bern. Im November wurde er glanzvoll in diesem Amt wiedergewählt. Von Graffenried ist verheiratet und Vater von vier Kindern. (PS)

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1 Kommentar

  1. Nachtrag: Das Interview fand am 11. Dezember 2020 von 14.30-15.30 Uhr im Büro des Stadtpräsidenten statt. Die Abstandsregeln wurden während der ganzen Zeit eingehalten. Am 19. Dezember 2020 meldete Alec von Graffenried, dass er Corona-positiv getestet wurde aber keine Sympthome hat. Er befindet derzeit sich in Isolation. (19.12.20 / PS)

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