Verfasser experimenteller Lyrik, aufmüpfiger Gedichte, Zeitgenosse mit spitzer Feder, Pfarrer mit dezidiert politischer Haltung – all dies vereint Kurt Marti in sich. Am 31. Januar 2021 wäre er einhundert Jahre alt geworden.
Mit der Schriftstellerei anzufangen habe er sinnvoller gefunden, als in eine Midlife-Crisis zu schlittern, wird Kurt Marti einmal zitiert. Was für ein mutiger Schritt, sich nicht in der Bequemlichkeit des erworbenen Lebensstatus einzurichten, sondern die Ungereimtheiten der Gesellschaft scharf zu beleuchten und in kühnen Worten auszudrücken.
Alpenapokalypse
mit dem kopf
in den wänden des windes
steine schlagen
zu tal
wer sind wir
wenn abends die berge brennen
und morgen
das land im feuer verloht
Ein Felssturz, der zeigt, wie ohnmächtig der Mensch angesichts der Gewalt der Berge ist, zugleich die Schönheit der von der Sonne erstrahlenden Berggipfel und das Morgenrot, das vielleicht keinen neuen Tag ankündigt, sondern eine Katastrophe, das Ende allen Lebens. – Ein Kosmos zerbirst in 26 Wörtern, ein Untergang, wie der Titel sagt, dem Erhabenheit nicht abzusprechen ist. Die zentrale Frage, die der Dichter stellt, lautet «Wer sind wir?» Darauf kommt es an, darüber müssen wir nachdenken. Der Begriff ‹Klimawandel› war, als dieses Gedicht entstand (1959 erstmals veröffentlicht), noch nicht in aller Munde.
Kurt Marti stellt – fast möchte ich sagen: systematisch – alle Gewissheiten unseres Denkens und Glaubens in Frage. Er ist nicht nur Theologe, Pfarrer, er ist Humanist. Es geht ihm darum, den Menschen aufzurütteln aus der Lethargie seines unreflektierten Trotts. «Ist alle Theologie vielleicht eine Flucht vor den einfachen, aber radikalen Aussagen und Aufforderungen der Bergpredigt Jesu (Matthäus 5-7)?», schreibt er in Heilige Vergänglichkeit, dem letzten von ihm selbst veröffentlichten Buch (2010 erschienen). Die Worte Jesu ernst zu nehmen, darum geht es Kurt Marti, das tut er selbst ganz radikal und ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Konventionen.
Kurt Marti, Bern 2010 (Foto: Hektor Leibundgut, Bern)
In Bern geboren und gestorben, ist Kurt Marti in seinem Denken weit über Grenzen hinausgetreten. In Bern ging er für einige Jahre mit dem gleichaltrigen Friedrich Dürrenmatt in die gleiche Schule. Nach der Matura begann Marti für kurze Zeit ein Jurastudium, sein Vater war Jurist, wechselte aber schnell zu Theologie, wo er sich bald am rechten Platz fühlte. Im 2. Weltkrieg musste Marti für längere Zeit Aktivdienst leisten, mit der Waffe in der Hand, – er, der später vehement gegen den Krieg anschrieb. Seine wichtigste Studienzeit verbrachte er in Basel, wo er bei Karl Barth studierte. Bevor er selbst ein Pfarramt übernahm, war er in Paris in einem Kriegsgefangenlager als Seelsorger tätig. Diese Zeit hat ihn wohl ebenfalls geprägt.
Nach verschiedenen Pfarrstellen im Kanton Bern war er seit 1961 Pfarrer an der Nydeggkirche in Bern. 1983 liess er sich frühpensionieren, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Dazu gehörten auch seine politischen Äusserungen. Schon seit den 1960er Jahren engagierte sich Marti im Kampf gegen Atomwaffen, Atomkraftwerke, ebenso gegen den Krieg der USA in Vietnam. Marti gehörte zu den Mitbegründern der Erklärung von Bern, einer Pionierin auf dem Weg zu globaler Entwicklungsförderung. Auch auf literarischem Gebiet stand er nicht abseits: Er war Mitglied der für die Schweizer Schriftstellerszene wichtigen Gruppe Olten.
Als Folge seiner politischen Haltung verhinderte der Regierungsrat 1972, dass Kurt Marti als Professor an die theologische Fakultät der Universität Bern berufen wurde. Er liess sich davon nicht beirren. Offensichtlich als ‹kleine Rache› verlieh ihm die Universität 1977 den Ehrendoktortitel. – Wenn die Kirchen sich politisch engagieren, stösst das auch 2020 noch auf Kritik von gewisser politischer Seite.
Die deutsche Theologin Dorothee Sölle, ebenfalls in der Friedensbewegung engagiert, hier zwischen Kurt Marti und Adolf Muschg, 1989 in Bern (Foto: Hektor Leibundgut, Bern)
Als Pionierleistung hat auch Martis Mundartdichtung zu gelten. Seine Gedichtsammlung rosa loui erschien 1967 und machte Furore. Andere Mundartdichter wie Ernst Burren hatten bis dahin nur für die Schublade geschrieben. 1965 wurden die Berner Troubadours mit ihren berndeutschen Liedern schnell bekannt und geschätzt, unter ihnen Mani Matter, mit dem Kurt Marti befreundet war. Die beiden verband eine ähnliche Sicht auf die Gesellschaft, in der sie lebten. Mani Matter fand neben kritischen Versen viele spielerisch-witzige Formen, Kurt Marti experimentierte mit seiner Lyrik in den Fussstapfen von Ernst Jandl und Eugen Gomringer.
Wie gut ergänzen sich die beiden doch:
Kurt Marti: «wo chiemte mer hi / wenn alli seite / wo chiemte mer hi / und niemer giengti / für einisch z’luege / wohi dass me chiem / we me gieng»
Mani Matter: «Dene wos guet geit, giengs besser / Giengs dene besser wos weniger guet geit / Was aber nid geit, ohni dass’s dene / Weniger guet geit wos guet geit . . . »
Altersmilde wurde Kurt Marti nicht. In Heilige Vergänglichkeit schreibt er: «Gott hat es gefallen, ein Universum voll rasender Gestirne entstehen zu lassen. Auch wir leben auf einem rasenden Planeten. Ist kosmische Raselust auch in uns selbst?» oder an anderer Stelle im gleichen Büchlein: «Ist der menschliche Rasewahn pandemisch geworden, hält er sich für Fortschritt. Sein Preis: Allerwärts plattgewalzter Humus in Form von Asphaltierungen und Betonierungen.»
Besinnungsweg in Bad Harzburg (Niedersachsen): Station 2 mit einem Liedtext von Kurt Marti: «In uns kreist das Leben». © Rabanus Flavus / commons.wikimedia.org
Hier der gesamte Text des «ökologischen Kirchenliedes».
Seine letzten Lebensjahre wurden ihm schwer erträglich, seine Hanni, mit der er seit 1950 verheiratet war, starb 2007, zehn Jahre später folgte ihr Kurt Marti. Er hatte an diesem Verlust gelitten, auch körperliche Alterbeschwerden hatten ihm zu schaffen gemacht. Trotzdem klingen seine Sätze mindestens so ironisch wie resigniert: «Die Altersindustrie boomt. Auch ich gehöre nun zu ihrem Rohstoff.» – Wir später Geborenen würden gern fragen, was dieser kluge Humanist zur aktuellen Lage zu sagen hätte.
Viele Werke von Kurt Marti sind noch erhältlich oder wurden neu herausgegeben, hier eine Auswahl:
Kurt Marti: Die Liebe geht zu Fuss. Ausgewählte Gedichte.
Mit einem Nachwort von Kurt Marti: Poesie ist Moral.
Nagel & Kimche 2018. 238 Seiten.
ISBN 978-3-312-01069-1
Kurt Marti: wo chiemte mer hi. sämtlichi gedicht ir bärner umgangssprach. Hrsg. von Andreas Mauz, mit einem Nachwort von Guy Krneta. Nagel & Kimche 2018. 208 Seiten.
ISBN 978-3-312-01061-5
Kurt Marti: Heilige Vergänglichkeit. Spätsätze.
Radius Verlag 2. Aufl. 2011. 48 Seiten.
ISBN: 978-3-87173-900-2
Kurt Marti: Hannis Äpfel. Gedichte aus dem Nachlass. Hrsg. von Guy Krneta. Mit einem Nachwort von Nora Gomringer. Wallstein Verlag 2021. 90 Seiten. ISBN 978-3-8353-3893-7