FrontKolumnenWenn die Enge das Infizieren fördert

Wenn die Enge das Infizieren fördert

Eines ist in dieser Ungewissheit gewiss: Die Pflegenden, die Leitungen der Alters- und Pflegeheime in der Schweiz gehen nicht fahrlässig, nicht unbesorgt mit den ihnen anvertrauten älteren Menschen, mit ihren Aufgaben um. Im Gegenteil. Ja, zu Beginn der Pandemie fehlte ihnen viel, wenn nicht alles: Schutzkleider, Masken, gar Desinfektionsmittel. Sie lernten schnell. Schlossen ihre Heime ab, schirmten ihre BewohnerInnen ab, brachten sie in Isolation. Ein Weckruf ging durch die Schweiz: So nicht! «Ich lasse meine Mutter, meinen Vater nicht in ihren, in seinen schwersten Stunden allein. Die Heime verstärkten ihre Schutzmassnahmen, begrenzten die Besuchszeiten, richteten gesicherte Begegnungsräume ein.

Der Bundesrat war auf Druck des Parlaments, der Parteien und vor allem der Kantone von der ausserordentlichen in die besondere Lage zurückgekehrt. Er nahm die Kantone in die Pflicht. Der Sommer kam. Die Lage entspannte sich. Noch vielmehr: Viele glaubten, die Krise sei überstanden. Obwohl alle wussten, wenn sie es wissen wollten, dass eine zweite Welle nicht auszuschliessen, gar zu erwarten war. Sie kam ungefragt und überrollte uns im November mit einer Wucht sondergleichen. Das Virus liess sich nicht bändigen, forderte gnadenlos seine Opfer, vor allem in den Pflege- und Altersheimen. Einzelne Kantone wie Basel-Stadt und Baselland, später Graubünden handelten und begannen mit dem Testen der Heimbewohner, ihrer Besucher, der Pflegenden und all derer, die für das Funktionieren notwendig sind. Sie warteten nicht auf Bern, nicht auf Alain Berset, der den Bundesrat davon zu überzeugen hatte, das Geld auch für das Testen locker zu machen. Und es irritiert schon, dass es einzelnen Kantonen jetzt plötzlich zu schnell geht, dass sie erst Konzepte erarbeiten müssen, für etwas, was sie schon lange hätten machen können, dass sie jetzt nach Personal rufen, wie Heinz Brand, der ehemalige SVP-Nationalrat und Präsident des Krankenversicherer-Verbandes Santésuisse, der in einem Leserbrief in der NZZ gar den Einsatz der Armee fordert.

Wir sind es einfach nicht gewohnt, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Alles soll zur Normalität zurückkehren und immer spielt das Geld beim Abwägen eine ganz bestimmende Rolle. Es geht bei den Pflege-und Altersheimen nicht nur um Schutzkonzepte. Es geht um viel mehr. Es geht auch um die Architektur, es geht um die Enge in den Heimen. Das ist mir wie Schuppen von den Augen gefallen, als ich im Sommer meine Schwester in einem Pflegeheim und Rehabilitationsklinik in Crans Montana besuchte. Ich war erstaunt darüber, wie grosszügig ihr Zimmer ausgestattet war, welchen Blick sie vom Balkon aus auf die Walliser Alpen, ins Rhonetal hatte. Ich war aber auch mehr als verwundert darüber, wie eng die Gänge, die Treppen, Lifte waren, wie eng gestuhlt der Essraum sich präsentierte. Ich musste im Gang den Leuten ausweichen, und ich fragte mich, wie das denn mit einem Rollator, vor allem mit zwei, funktionieren würde.

Ich erinnerte mich an eine Besichtigung eines Neubaus im städtischen Alterszentrum Dreilinden in Luzern im Jahre 2017. Gret Löwensberg, die Architektin und Preisträgerin des Projekts, führte durch den Neubau. Ich war erstaunt über die wunderschönen, aber nicht besonders grossen Zimmer mit Blick auf den Vierwaldstättersee, die Rigi, den Pilatus vom Bette aus. Noch mehr erstaunt war ich über die Gänge: breit und grosszügig ausgestattet. Ich fragte sie: «Ist das nicht Platzverschwendung, hätte man die Zimmer nicht etwas grösser machen können?» Nein, meinte sie: «Der Gang ist die Strasse der Bewohnerinnen, hier können sie spazieren, sich begegnen, zwei Rollatoren haben wunderbar Platz nebeneinander, können gleichzeitig wenden, ohne sich zu bedrängen.

Heute weiss ich, Gret Löwensberg hat vorweggenommen, wie Alters-und Pflegeheime heute und in Zukunft zu bauen sind. Die in den späten 70iger und 80iger Jahren gebauten Häuser knüpfen nicht an die Heime aus den Vorkriegsjahren an: grosse Treppen, hohe Räume, breite Gänge. Im Gegenteil. Und klar wurde mir auch, dass es mehr braucht als nur ein Pflege- und Altersheim, einen Kanton, eine Gemeinde einfach zu verwalten. Die Institutionen müssen proaktiv, zukunftsorientiert geführt werden. Es braucht eigene Initiativen, eigene innovative Ideen. Vor allem in Krisenzeiten. Leider steht den Verantwortlichen in Pflege- und Altersheimen in der Schweiz oft eines im Weg: der finanzielle Spardruck, der von den übergeordneten Instanzen, den Sozialwerken, den Krankenkassen, aber auch den Parteien, Parlamenten, Kantonsregierungen, Gemeinden ausgeübt wird. Der Druck bremst, lähmt das eigenverantwortliche Handeln, das so notwendig ist, um proaktiv zu agieren.

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