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Zu entdecken: Ottilie W. Roederstein

Zu Lebzeiten gehörte sie neben Hodler, Amiet und Giacometti zu den international anerkannten Künstlern, geriet aber unmittelbar nach dem Tod in Vergessenheit. Das Kunsthaus Zürich gedenkt der wichtigsten Schweizer Porträtistin der frühen Moderne Ottilie W. Roederstein in einer Retrospektive. Es ist die erste seit achtzig Jahren.

Ottilie Roederstein präsentiert sich auf ihren Selbstporträts als entschlossene und ernst zu nehmende Kunstmalerin, die sich Respekt und Erfolg erarbeitet hatte. Im männlich dominierten Kunstbetrieb behauptete sie sich und wurde wahrgenommen. In Rezensionen anerkannte man sie als «eine Künstlerin mit männlichem Talent». In allen Phasen ihres Schaffens, bei der Erprobung neuer Stilrichtungen und Maltechniken, spielten Selbstporträts für sie eine wichtige Rolle. Meist stellte sie sich mit verschränkten Armen und abweisendem Blick in maskuliner Haltung dar.

Ottilie W. Roederstein, Selbstbildnis mit Pinseln, 1917. Tempera auf Leinwand. Kunsthaus Zürich.

Ottilie Wilhelmine Roederstein (1859-1937) war zu Lebzeiten die wichtigste Schweizer Malerin und fand auch in Deutschland und Frankreich grosse Anerkennung. Ihre Porträts und Stillleben stellte sie von 1883 an in Paris, London, Frankfurt am Main und Chicago aus. Als einzige Frau vertrat sie neben männlichen Kollegen wie Ferdinand Hodler, Giovanni Giacometti und Cuno Amiet 1912 die Schweiz bei der «Internationalen Kunstausstellung des Sonderbundes» in Köln.

Nach ihrem Tod geriet Roederstein trotz ihrer einst internationalen Wertschätzung in Vergessenheit. Nach über achtzig Jahren ist die Ausstellung im Kunsthaus Zürich mit rund siebzig Werken die erste monografische Werkschau in der Schweiz, die das stilistisch vielfältige Oeuvre der Künstlerin wieder einem breiten Publikum zugänglich macht.

Tilly Roederstein war als Tochter einer Textilkaufmannsfamilie aus dem Rheinland in Zürich aufgewachsen. Durch den Schweizer Maler Eduard Pfyffer (1836-1899), der die Familie porträtierte, entwickelte sie eine Vorliebe für die Kunst. Obwohl Kunstmalerin damals nicht den gesellschaftlichen Konventionen entsprach, setzte sie sich der Familie gegenüber durch und begann ihre Ausbildung 1867 im Zürcher Atelier von Pfyffer. Kunstakademien blieben den Männern vorbehalten, Frauen konnten nur in privaten Malateliers lernen.

Ottilie W. Roederstein in ihrem Atelier im Städelschen Kunstinstitut in Frankfurt am Main, um 1894. Foto: ©Roederstein-Jughenn-Archiv im Städel Museum, Frankfurt am Main.

Ihre schnellen Fortschritte besonders als Porträtistin brachte Roederstein 1879 ins Berliner Damenatelier des Malers Karl Gussow (1843-1907), wo sie ihre Freundin Anni Hopf kennenlernte. Mit ihr siedelte sie im Jahr 1882 nach Paris über, um sich dort weiterzubilden. Gleichzeitig löste sie sich aus der familiären Bindung und schaffte es, ihren Lebensunterhalt als freischaffende Künstlerin mit Auftragsarbeiten und dem Verkauf ihrer Bilder selber zu bestreiten. Sie arbeitete gezielt für den Kunstmarkt und signierte mit dem Kürzel OWR. Schwerpunkt ihrer Malerei waren Porträts, für die sie schon früh Aufträge erhielt, sowie Blumen-Stillleben. Auf der Pariser Weltausstellung 1889 wurde ihr eine Silbermedaille verliehen.

Ottilie W. Roederstein, Selbstbildnis mit roter Mütze, 1894, Tempera auf Holz. Kunstmuseum Basel.

Seit 1891 lebte sie mit ihrer Lebensgefährtin Elisabeth H. Winterhalter, Gynäkologin und erste deutsche Chirurgin, in Frankfurt am Main. 1907 erwarben die beiden in Hofheim im Taunus ein grosses Grundstück, wo sie ein Wohnhaus und ein Atelier errichteten. Roederstein war Mitglied im Deutschen- und im Cronberger-Künstler-Bund und beteiligte sich an Kunstausstellungen in Deutschland, der Schweiz sowie in Frankreich.

Sie kämpfte gemeinsam mit ihrer Partnerin für die gleichberechtigte Bildung der Frauen und eröffnete ein Lehr-Atelier ausschliesslich für Schülerinnen. Zum Städelschen Kunstinstitut in Frankfurt, das erstmals Bilder von einer Künstlerin ankaufte, pflegte sie engen Kontakt und mietete 1894 in der benachbarten Städelschule ein Atelier. Das Kunsthaus Zürich hatte in den 1890er Jahren ebenso Werke von Ottilie Roederstein erworben. 1920 stiftete sie dem Zürcher Kunsthaus Werke aus ihrer eigenen Sammlung moderner französischer und Schweizer Kunst; als erfolgreiche und vielbeschäftigte Künstlerin förderte sie andere Kunstschaffende durch Ankäufe.

Roedersteins frühe Gemälde in dunkeltonigen Farben waren von der französischen akademischen Malerei beeinflusst. Durch die Auseinandersetzung mit der italienischen und deutschen Renaissance begann sie um 1893 in Tempera zu malen und betonte damit die zeichnerische Qualität. Die im ausgehenden 19. Jahrhundert wiederbelebte Temperamalerei galt als traditionsverbunden und zugleich als avantgardistisch.

Ottilie W. Roederstein, Quitten, 1929, Tempera auf Leinwand. Kunstmuseum Bern.

Thematisch hielt sich Roederstein an Porträts und Stillleben, die gefragt waren und den Künstlerinnen zugestanden wurden. Doch in ihren freien Kompositionen wagte sie sich auch an religiöse Bilder und Akte heran, die den Männern vorbehalten waren. Nach 1900 experimentierte sie auch mit impressionistischen und symbolistischen Stilmitteln. In den 1920er-Jahren fand sie zu ihrer individuellen sachlich-nüchternen Bildsprache.

Ottilie W. Roederstein, Selbstbildnis mit Hut, 1904. Städel Museum, Frankfurt am Main, Foto: ©Städel Museum, Frankfurt am Main.

Ottilie Roedersteins Handschrift ist energisch und prägnant. Und doch lässt sich ihr eigenständiges Schaffen nicht der künstlerischen Avantgarde zuordnen. Moderne Strömungen griff sie auf, wenn diese bereits etabliert, auf dem Kunstmarkt gefragt und finanziell Erfolg versprechend waren, was jedoch die Qualität ihres Werks nicht schmälert.

Ihr Werk kann nun durch die Zürcher Ausstellung, die anschliessend im Städel Museum in Frankfurt am Main präsentiert wird, wiederentdeckt werden. Die Kuratorin Sandra Gianfreda zeigt mit einer repräsentativen Auswahl Roedersteins Gemälde und Zeichnungen, dabei sind rund ein Dutzend Werke aus dem Bestand des Zürcher Kunsthauses vertreten. Die Ausstellung ist chronologisch, nach den wichtigsten Lebensstationen der Künstlerin konzipiert, ergänzt von bisher unveröffentlichtem Foto- und Archivmaterial.

Bis 5. April 2021
Ottilie W. Roederstein, Kunsthaus Zürich, mehr Informationen, auch Videos zur Ausstellung siehe hier

Ausstellungskatalog «Ottilie W. Roederstein», verschiedene Beiträge und zahlreiche Abbildungen, Städel Museum/Hatje Cantz, 2020, CHF 49.00.

Stadtführung zu Ottilie W. Roedersteins Wohn- und Arbeitsorten in Zürich mit Barbara Hutzl-Ronge, mehr siehe hier.

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6 Kommentare

  1. Liebe Ruth, dieses Porträt von Ottilie W. Roederstein hat mir sehr gut gefallen. Ich habe eine Frage:
    warum ging die Künstlerin nach ihrem Tod vergessen, wenn sie doch zu Lebzeiten Erfolg hatte und als «Beste» galt? Danke für eine Antwort.

    • Liebe Judith
      Es gab in allen Epochen Künstlerinnen, die zu Lebzeiten grosse Erfolge feierten. Viele malten Porträts und konnten damit ihren Lebensunterhalt bestreiten. Sie bekamen Zugang zum Hof oder zur besseren Gesellschaft, die sich Porträts leisten konnten. Aber nach ihrem Tod war das Interesse vorbei, so erging es auch Ottilie Roederstein. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die figurative Malerei lange Zeit grosse Mühe, weil nur das Abstrakte und Konkrete einen Kunstwert hatte. Die figurative Malerei ist erst seit wenigen Jahren wieder gefragt.

  2. Chère Ruth Vuilleumier,
    Cette page consacrée à Ottilie W. Roederstein est remarquable. C’est une artiste peintre que je ne connaissais pas. En Suisse francophone, nous avons eu Lélo Fiaux (1909-1964) qui possédait la même puissance créatrice (figurative Malerei). Siehe auch: Fondation Lélo Fiaux, 1800 Vevey.
    André Durussel
    CH-1464 Chêne-Pâquier VD

    • Merci André Durussel-Pochon pour l’indication de cette artiste de la Suisse francophone, que je ne connaissais pas non plus et qui me semble très interessante.

  3. Liebe Ruth, Deine Besprechung der Ausstellung gibt mir Lust sie zu sehen . ICH hoffe vor dem 4 April wieder in der Schweiz zu sein. Dir alles Gute.
    Sabine

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