Streaming-Premiere am Zürcher Schauspielhaus: Leonie Böhm inszeniert mit «Schwestern» nach Tschechow ein beeindruckendes Stück über die Einsamkeit in schwieriger Zeit.
Kreativ, überraschend, geistreich: Verschiedene Schweizer Kulturhäuser, Künstlerinnen und Künstler nutzen aktuell die Möglichkeiten des Internets, um trotz Coronakrise ihr Publikum zu erreichen. So auch das Schauspielhaus Zürich, das mit «Schwestern» nach Tschechow eine Livestream-Premiere wagte. Rund 350 Besucherinnen und Besucher beteiligten sich an diesem Stream-Theater.
Tschechows «Drei Schwestern» gehört zu den berühmtesten Theaterstücken überhaupt. Das Stück zeigt das vergebliche Streben nach Glück: Drei Schwestern und ihr Bruder Andrej leben in einer namenlosen russischen Provinzstadt. Sie haben grosse, aber nicht unrealistische Erwartungen ans Leben, die sie alle mit einem Umzug nach Moskau verbinden. Die Zürcher Inszenierung verzichtet auf eine getreue Wiedergabe des Stücks, denkt das Ende weiter, reduziert es auf einen eindringlichen Monolog des Bruders Andrej, der, alleine zurückbleibend, mit sich und der Welt hadert.
Lukas Vögler als vereinsamter Andrej mit Panther. Fotos: Gina Folly
Auf der Bühne agiert Lukas Vögler, ausgestattet mit langem Haar bis über die Knie und gekleidet in einem Mao-Outfit, als der verlorene Bruder Andrej, der mal angestrengt, mal verzweifelt gegen die Leere ankämpft. Mit von der Partie ist einzig ein riesiger schwarzer Panther aus Pappe, der bedrohlich mit furchterregenden Zähnen das Monolog-Geschehen mitverfolgt. Dazu ertönt Rilkes Gedicht «Panther», vertont und gesungen von Lukas Vögler.
Morgen fängt ein neues Leben an
Es ist ein hilfloser Monolog, der da geboten wird. «Ich bin hier, und keiner da», die Schwestern sind längst weg, nur die Live-Kamera begleitet ihn auf der leeren Bühne, fängt unerbittlich seine deklarierte Nutzlosigkeit ein. Andrej lamentiert über seine Einsamkeit, dass er alle Überzeugungen in der Leere verloren hat, will einmal im Leben wissen, was er wirklich will, trauert seinen abwesenden Schwestern nach, redet von einer neuen Zukunft: «Morgen fängt ein neues Leben an». Er entledigt sich des Mao-Outfits und der Bergschuhe, schneidet sich die Haare kürzer, stülpt sich einen orangefarbenen Umhang über, tanzt barfuss sich bedächtig frei. Es sind ausweglose Versuche, der selbstgewählten Einsamkeit zu entrinnen. Zum Schluss bleibt nur der Gang in den Rachen des Monster-Panthers, derweil Rammsteins Song «Ohne dich kann ich nicht sein / Mit dir bin ich auch allein» ertönt und die Augen des Panthers angsteinflössend leuchten.
Lukas Vögler bewältigt seinen schwermütigen Monolog mit Bravour. Recht locker und gefasst, mal zuversichtlich und frohgemut, mal nachdenklich und ganz in sich gekehrt schildert er seine Ausweglosigkeit, liefert ein schwebendes Spiel ohne Allüren, das die sinnlose Leere förmlich spürbar macht. Die Live-Kamera verstärkt mit ihren Totalen und Rundumsichten das wechselvolle Spiel. Eindrücklich der Schwenk in den leeren Zuschauerraum mit seinen glänzend roten Sitzen, ein Sinnbild für die eigene Verwundbarkeit in der jetzigen Krise.
Weitere Stream-Vorstellungen sind geplant.