Nach einer traurigen Kindheit in der Schweiz wird Antonio Ligabue nach Italien abgeschoben, wo er weiter ein Ausgestossener bleibt, bis er als Mensch und Künstler wahrgenommen wird, mitreissend verkörpert von Elio Germano im Dokumentarspielfilm «Volevo nascondermi» von Giorgio Diritti.
Vor Wochen habe ich es abgelehnt, «Volevo nascondermi» anzusehen und zu besprechen, weil die zwei Männer auf dem Plakat mir fremd, abstossend, andersartig erschienen. Es zeigt (siehe Titelbild) Antonio Ligabue, einmal gemalt, einmal gefilmt. Peinlich, wie auch mich ein Ersteindruck dermassen beeinflusste! Gottlob habe ich mein Vorurteil korrigiert und dann den Film dreimal angeschaut – und bin jetzt voll begeistert: «Volevo nascondermi» ist ein eindrücklicher, informativer Biopic eines in der Allgemeinheit wenig bekannten Künstlers, gleichzeitig aber auch eine Parabel für das Leben jedes Outsiders, bis er zum Insider wird. Dieses Angenommen- und Ausgestossensein übersteigt die Biografie eines Einzelnen, wird allgemeinmenschlich, allgemeingültig.
Von Gremien verwaltet und abgelehnt
Mehr als nur ein Biopic
Im Zentrum des Films steht das Leben und Werk des lange verfemten und verachteten, erst gegen Ende des Lebens gefeierten Aussenseiter-Künstlers Antonio Ligabue, angesiedelt zwischen Art-Brut und Expressionismus. Er wurde 1899 als unehelicher Sohn einer italienischen Fremdarbeiterin in Zürich geboren, verbringt dann eine lieblose Kindheit bei Pflegeeltern in der Ostschweiz. Erschreckende Szenen schwarzer Pädagogik! Mit 19 Jahren wird er nach Italien abgeschoben. Zurückgezogen und der Sprache nicht mächtig, lebt er am Ufer des Po in bitterer Armut, bis ihn ein bekannter Bildhauer bei sich aufnimmt. Der hässliche, verkrüppelte Mann malte primitive Bilder, ausgelöst durch seine von Dschungelszenen mit Tigern, Löwen und Gorillas bevölkerten Albträume, im Lauf seines Lebens herangereift aus Erniedrigung und Einsamkeit. Damit erweitert der Künstler seine Realität zur Surrealität, indem er sich selbst wie ein Tier verhält, aber dennoch menschlich fühlt und reagiert. In seinen Werken pulsieren Visionen des Todes und des Lebens, der Wut und der Sehnsucht.
Die Stärke von Giorgio Dirittis Regiearbeit liegt darin, filmische Entsprechungen für die farbintensive, raue und emotionale Malerei sowie dramaturgische Entsprechungen mit Zeitsprüngen und Stilbrüchen für das faszinierende und gleichzeitig erschütternde Panoptikum menschlichen Verhaltens, jenseits psychologischer Theorien, gefunden zu haben. Dass dabei Zeiten und Orte durcheinandergewirbelt werden, wirkt selbstverständlich. Der Film betrifft als Ganzes das Künstlersein, das Kunstbusiness, aber auch das Leben jedes Menschen mit seinen Sehnsüchten und Bedürfnissen, Glücks- und Unglücksmomenten. – Zu einem wirklich begeisternden Kinoerlebnis wird der Film wohl erst, wenn man sich bei einer zweiten Vision in den Flow dieser Bild- und Ton-, Farben- und Formenorgie hineinbegibt.
Ein Geniestreich ist dem Schauspieler Elio Germano gelungen, der Antonio (Toni) Ligabue in seiner sensationellen Performance zum Leben erweckte, wofür er an der Berlinale 2020 mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde.
Mit Porträts kommunizierend
Aus den Anmerkungen des Regisseurs
Über den Wert der Vielfalt
Ligabue, der sein Leben lang für verrückt gehalten wurde, war in erster Linie ein mehrmals verstossenes Kind, geboren mit körperlichen Mängeln, die zu Ablehnung und sozialer Ausgrenzung führten und wahrscheinlich auch seine psychischen Störungen zur Folge hatten. Im Bereich der Kunst vermochte er dank seines Talents jedoch einer klaren, originären Sicht auf das Leben Ausdruck zu verleihen. Zur Malerei kam er ohne technisches Wissen, ohne van Gogh und die Fauves zu kennen, auf die seine Werke sich teilweise zu beziehen scheinen. Seine Gemälde geben eine verrückte Sicht auf das Leben wieder, stellen es als unaufhörlichen Überlebenskampf und dem starken Wunsch nach Erlösung dar. Seine Skulpturen sind realistisch und Ausdruck intensiver Vitalität. Die Selbstporträts sind gleichsam Fotografien seiner Gemütsverfassung. Aus seinem Gesicht, dessen Ausdruck sich von Werk zu Werk verändert, blicken fragende Augen, die um Gehör, Anerkennung und ein Zeichen der Zuneigung bitten. Wie wohl jeder Mensch fühlte sich auch Ligabue manchmal unzulänglich, missraten, unterlegen. Sein erster Instinkt war es denn, sich zu verstecken, aus der Welt zu verschwinden (Filmtitel: «Ich wollte mich verstecken».) Schaut man auf sein Leben, scheint es offensichtlich, dass ein Ursprung seiner Qualen sein «Anderssein» war – das gleichzeitig aber auch seine künstlerische Identität ausmachte. Die Geschichte von Ligabue fasziniert, wirft Fragen auf und konfrontiert mit dem vordergründigen Widerspruch zwischen einem unattraktiven Aussehen, einer Form von Verrücktheit auf der einen Seite und andererseits einem leuchtenden Talent, das lange im Verborgenen war und sich dann, als es endlich zutage trat, als ausserordentlich identitätsstiftendes Element erwies und zur erträumten, erwarteten, gesuchten Gelegenheit der Erlösung wurde.
Der visuelle Ansatz
Von der narrativen Gestaltung her weist das Drehbuch über eine simple Biografie Antonio Ligabues hinaus. Die Erzählung folgt Tonis Gemütszuständen und macht seine Emotionen zum Angelpunkt des Geschehens, wodurch das Publikum diese näher und tiefer miterlebt. Bei allem Realismus und Wahrheitsbezug evoziert der Film zwischen den Zeilen auch ein dunkles Märchen, das Toni sein Leben lang begleitet hat und dessen Codes er gewissermassen selbst verkörperte, von der Kleidung bis zu seiner Art, sich auszudrücken, zu bewegen und zu gestikulieren. Auch die Welt um ihn herum erinnert an Archetypen aus Märchen, mit exemplarischen Figuren wie der Stiefmutter und dem Riesen als Vater, dem Schulleiter, den bösen Buben und Erwachsenen, die ihn hänseln und auslachen. Im Dorf umgibt ihn ein Figurenchor aus Bewohnern, die ihn oft zurückweisen und manchmal ihrerseits surreal und märchenhaft wirken. Allmählich finden sich unter ihnen aber auch Freunde, die für Tonis Erlösung von bedeutend sind. Einige Eigenschaften Ligabues erinnern an die Protagonisten aus Chaplin-Filmen, die im Grunde wie er selbst um einen Sonnenplatz in der Gesellschaft kämpfen.
Im Gespräch mit den Tieren
Nachbemerkung: Zitate zum Anderssein
Auf der ersten Ebene ist «Volevo nascondermi» ein Biopic des Künstlers Antonio Ligabue, dem es gelingt, in seinem Werk mit Empathie und Leidenschaft die Welt nach seinem Sinne nachzubilden. Auf der zweiten Ebene ist der Film eine allgemeingültige Meditation über das Anderssein, von versteckten Anspielungen und radikalen Taten. – Nachfolgend zehn ziemlich zufällig gefundene Zitate, die vielleicht provozieren, das Thema des Andersseins weiter zu verfolgen und auf das eigene Leben anzuwenden:
«Anders sein möchte wohl jeder einmal, aber wehe, er wird anders anders als es den andern gefällt.» Martin Reisenberg
«Alle Buckligen verachten jeden ohne Buckel.» Alphonse Daudet
«Es ist das Recht des anderen, anders zu sein.» Fred Ammon
«Anders zu sein, ein Geschenk, das oft sehr spät geöffnet wird.» Engelbert Schinkel
«Dem anderen sein Anderssein verzeihen, ist der Anfang der Weisheit.» China
«Absonderlich zu sein: Grundbedingung des Geistes.» Peter Rudl
«Das Sosein lebt im Anderssein.» Michael Marie Jung
«Im Grossen und Ganzen sind die Leute gleich, deshalb wollen sie anders erscheinen.» Pavel Kosorin
«Anders zu sein bedeutet für jeden Menschen etwas anderes.» Ernst Ferstl
«Hätte Gott mich anders gewollt, / So hätt› er mich anders gebaut.» Johann Wolfgang von Goethe
«Andersdenkende sind oft ganz anders, als wir denken.» Ernst Ferstl
Titelbild: Antonio Ligabue vor Selbstbildnis
Regie: Giorgio Diritti, Produktion: 2020, Länge: 120 min, Verleih: Xenixfilm
Das Museum im Lagerhaus St. Gallen zeigte in der ersten Hälfte 2019 eine umfangreiche Ausstellung zu Leben und Werk von Antonio Ligabue: https://seniorweb.ch/2019/04/22/der-maler-und-seine-tiere/
Ligabue hatte ja seine Kindheit in der Ostschweiz verbracht. Seine Bilder, die er später in Italien malte, erinnern mit den spitzen Felsen und den Kirchtürmen an diese frühen Jahre.