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Kissinger, Nationalstaat und die Schweiz

Henry Kissinger, 94 Jahre alt und kein bisschen leise. Im Gegenteil. Zurzeit arbeitet der ehemalige US-Aussenminister an einem «kleinen Büchlein», in dem er sich mit der künstlichen Intelligenz auseinandersetzt, weil die technologische Entwicklung «einen überwältigenden Einfluss auf unsere künftige Lebensweise ausüben» werde. In einem bemerkenswerten Interview, das der Schriftsteller Rolf Dobelli mit ihm für die NZZ führte, erinnert Kissinger daran, dass der Nationalstaat am Ende des 18. Jahrhunderts noch keine Realität war, dass er sich aber bereits 50 Jahre später als grundlegende Organisationsform durchgesetzt habe. Heute seien es gigantische Tech-Konzerne, die sich als Folge ihrer Innovationskraft zu Organisationen von der Grösse und mit ihren Zielen entwickeln, die jene der Nationalstaaten weit übersteigen würden. Noch würden sie nicht oder noch nicht als politische Akteure wahrgenommen. Und schlimm sei, dass diese Konzerne unter Managern entstanden seien und entstehen, die nur an deren Wachstum interessiert seien und nicht auf deren nachhaltige Wirkung.

Und wenn sie bald einmal als politische Akteure wahrgenommen werden, was dann? Werden sie die Nationalstaaten als Organisationsform ablösen, werden sie im Gegensatz zum aktuellen Trend «Zurück zum Nationalstaat» die Gegenentwicklung auslösen? Auf diese Fragen gab Kissinger keine Antwort, oder wohl wahrscheinlicher: er wurde nicht danach gefragt.

Umso bedenkenswerter sind seine Aussagen zu Europa, gerade auch für die Schweiz. Europa sei während Jahrhunderten das Zentrum der politischen Kreativität gewesen. Fast alle grossen Ideen, die unser Leben heute bestimmen, hätten ihre Wurzeln in Europa, sagt Kissinger, dessen Eltern mit ihm 1938 vor dem Nazi-Regime in die USA geflüchtet sind. «Aber Europa verursachte aber auch Katastrophen, verwickelte sich in mehrere Kriege und verausgabte seine Kräfte». Heute stelle sich die Frage, was Europa anstrebe: eine Institution, die sich nur auf den Wohlstand seiner Bevölkerung fokussiere und auf die Förderung gewisser Wissenschaftsbereiche, aber keine Ambitionen auf die Mitwirkung in globalen Fragen erkennen lasse. Europa habe in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht zwar enorme Leistungen vollbracht, geopolitisch aber seine Rolle noch nicht gefunden. Und der zentrale Satz Kissingers: «Im Hinblick auf seine historische und strategische Rolle scheint mir Europa noch ganz am Anfang der Entwicklung zu stehen.»

Das ist doch geradezu tröstlich für uns in der Schweiz, Europa stehe am Anfang seiner Entwicklung. Haben wir nichts verpasst? Während der Bundesrat zurzeit um das Verhältnis der Schweiz zu Europa ringt, möglicherweise das bereits ausgehandelte Rahmenabkommen langsam sterben lässt, in Abstand zur EU geht, sich gar zu isolieren beginnt, ringt Europa um seine Position zur Welt. Will die EU eine geopolitische Rolle spielen, muss sie künftig mehr werden als eine Währungs- und Wirtschaftsgemeinschaft, muss sie zu einer Einheit auch in aussenpolitischen Fragen finden. Gerade im Nahost-Konflikt scherte Ungarn jüngst aus, verunmöglichte so eine europäische Haltung zum Konflikt zwischen den Israelis und den Palästinensern, weil die 27 EU-Staaten (noch) sich nur einstimmig positionieren können.

Für Kissinger steht die EU also in diesem Prozess erst am Anfang. Eine gute Gelegenheit, sich der EU anzunähern, als sich von ihr zu distanzieren. Norwegen und unser Nachbar Liechtenstein sind rechtzeitig dem EWR beigetreten, haben sich zu Beginn der 90-er Jahre der EU angenähert, ohne ihre Souveränität zu verlieren. Wir haben es knapp nicht geschafft, stimmten am legendären 6. Dezember 1992 mit 50,3 % Nein nur ganz knapp gegen den EWR-Beitritt. Wenn wir es noch einmal verpassen, uns richtig zu positionieren, wird das uns um Jahre zurückwerfen. Wir werden isoliert dastehen, wenn dannzumal nicht mehr Nationalstaaten das Schicksal der Welt bestimmen, wenn andere Organisationen zunehmend zu politischen Akteuren werden, die nur noch wirtschaftliche Interessen verfechten, wie Kissinger befürchtet. Und die EU nicht zu dem wird, was sie sein könnte: ein gleichberechtigter Partner im Weltkonzert der Mächtigen, den USA, China und Russland.

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