StartseiteMagazinGesellschaftUnsere Sinne sind zu grob!

Unsere Sinne sind zu grob!

Was Pflanzen alles wahrnehmen, wie genau Gorillas menschliche Mimik erkennen können, welchen unschätzbaren Wert Schafe für die Alpwirtschaft haben. Florianne Koechlin berichtet darüber und über vieles mehr in ihrem Buch «Von Böden die klingen und Pflanzen die tanzen».

Den ersten Teil des Titels von Koechlins Buch dürfen wir durchaus wörtlich nehmen: Der Erdboden unter uns tönt. Nicht als Widerhall von Schwergewichten, die sich auf ihm bewegen, es sind Geräusche in der Gartenerde selbst – je mehr Bodenlebewesen sich dort eingenistet haben, desto vielfältiger tönt es. Die Autorin war am Projekt Sounding Soil beteiligt, das Marcus Maeder, Klangkünstler und Umweltwissenschaftler an der ETH Zürich, mit der Stiftung für ökologische Entwicklung konzipiert hat. Ein Aufnahmegerät, ein Sensor mit Metallnadel und Kopfhörer verhalfen Koechlin dazu, in ihrem Garten zu hören, wie es unter der Oberfläche tönt. Wenig war unter den Tomaten zu hören, umso mehr unter dem Gebüsch, wo sich Würmer, Ameisen, Springschwänze und anderes Kleingetier in grosser Zahl tummeln.

«Im Boden ist es dunkel, aber voller Leben», schreibt die Biologin und langjährige Kämpferin für eine ökologische Landwirtschaft ohne Einsatz von Gentechnik. Alle Themen, von denen dieses Buch handelt: Pflanzen, Tiere, Boden, Landwirtschaft, sind sorgfältig recherchiert mit Anmerkungen, Quellen und weiterführenden Literaturangaben im Anhang, ohne dass beim Lesen auch nur einmal Langeweile aufkommt oder die Leserin sich überfordert fühlt. Denn Florianne Koechlin beherrscht die Kunst, spannend und verständlich zu schreiben. Ihr Buch basiert auf Gesprächen mit Wissenschaftlern, deren Arbeit die Autorin teils schon lange verfolgt. Indem wir bei diesen Gesprächen quasi zuhören können, fällt es leicht, die Argumentation und die Erfahrungen nachzuvollziehen.

Tanzpflanze, auch indische Telegrafenpflanze (Codariocalyx motorius) genannt  © Saikung, Hong Kong / commons.wikimedia.org

Sie glauben nicht, dass Pflanzen tanzen? Florianne Koechlin erzählt Ihnen davon. Sie hat Peter Gloor, Forscher am MIT in Cambridge / Massachusetts, besucht und mit ihm über seine Forschungen zu Kommunikation zwischen Pflanzen und Tieren gesprochen. Gloor erforscht, wie Pflanzen menschliche Emotionen erkennen können, und zwar auf modernste Weise: mithilfe künstlicher Intelligenz. Dass eine Mimose ihre fein gefiederten Blätter zusammenfaltet, wenn man sie sanft berührt, haben wir als Kinder schon probiert. Die Mimose erkennt aber auch, wenn nur Luft ihre Blätter bewegt, und reagiert dann nicht.

Die Tanzpflanze (Codariocalyx motorius) erstaunt noch mehr: Zu Musik bewegt sie ihre Blätter deutlich und gut sichtbar, je nach Musikstil in einem anderen Rhythmus. «Besonders angeregt hat sie das Jodeln», lesen wir. Pflanzen können elektrostatische Entladungen einer Person während des Gehens wahrnehmen – mit einer beachtlichen Treffsicherheit von 85%. Ein hochspannendes Gespräch, das die beiden Forscher über die Wahrnehmungsfähigkeiten von Pflanzen führen!

Florianne Koechlin z. V. g. Lenos Verlag

Auch die Tiere in der heutigen Landwirtschaft erhalten ihren Platz bei Florianne Koechlin. Im Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) unterhält sie sich mit zwei Nutztierforschern. Hier geht es um tiergerechte Haltung: «Von der Kuh lernen, was sie für ein gutes Leben braucht».

Darüber gibt die Weidehaltung, wo die Kühe ihrem eigenen Rhythmus gemäss leben können, wichtige Informationen. Nur auf der Weide können die Forschenden beobachten, was die Tiere gern fressen, nämlich morgens andere Kräuter als nachmittags. Ihnen also stets das gleiche weiche Silofutter zu verabreichen, fördert die Gesundheit der Tiere nicht.

Koechlin schliesst dieses Kapitel mit der Frage, «was wir den Tieren, die uns wirtschaftlich so viel geben, zurückgeben können. Ein fairer Deal wäre, Haustiere – Rinder, Schweine, Hühner – mit einem neuen Blick anzuschauen», – und entsprechend zu handeln. Von einem ganzen Ökosystem erfahren wir auch: dem Kuhfladen, denn der ist ein gefundenes Fressen für allerlei Lebewesen, in Indien auch als Dünger wertvoll.

Engadinerschaf © Christian Gazzarin (engadinerschaf.ch)

Über die grosse Bedeutung der Schafhaltung auf Alpweiden spricht die Autorin mit Erika Hiltbrunner, Botanikerin an der Universität Basel. Diese hat einen «Tick» der Schafe herausgefunden: «Sie schälen gierig die Rinde vom Stamm der Grünerlen, so als ob sie ein Digestif zu sich nähmen». Diese Erlenart überwuchert nämlich Alpweiden in kurzer Zeit, so dass die charakteristische Vielfalt der Pflanzen in diesem einzigartigen Lebensraum droht, verloren zu gehen.

Die Forschungen zu Genen, nicht nur zur Gentechnik, sondern zu den weitreichenden Zusammenhängen zwischen Gen und Leben, beschäftigen Florianne Koechlin in verschiedenen Kapiteln. Es wird immer klarer, dass es keinen Sinn hat, nur «das Gen» zu erforschen und manipulieren zu wollen. «Je mehr wir forschen, desto weniger wissen wir, was ein Gen ist», erklärt ihr der Ökologe Ignacio Chapela von der Universität von Kalifornien.

Hier erfahren wir, was wir alles noch nicht wissen – und wie verhängnisvoll es wäre, wenn wir die Tragweite der künstlichen Genveränderungen nicht berücksichtigen, nur um des schnellen wirtschaftlichen Erfolges willen. Ein weiteres Beispiel beschreibt uns die Autorin in einem umfangreichen Kapitel: Der indische Bundesstaat Andhra Pradesh hat begonnen, seine gesamte Landwirtschaft umzustellen, und will ab 2027 vollständig auf Pestizide und Kunstdünger verzichten, stattdessen Mischkulturen anlegen und die Dorfgemeinschaften zu stärkerer Zusammenarbeit anleiten.

Die Entscheidung fiel nicht aus Freude am Experiment, sondern aufgrund der Tatsache, dass nach 60 Jahren Intensivbewirtschaftung die Böden ausgelaugt, viele Flüsse vergiftet sind und daraus weitreichende nachteilige Folgen entstehen. – Umstellungen der Landwirtschaft in Afrika machen den Menschen in Andhra Pradesh Mut, dass ihr Projekt gelingen kann.

Nebst ihrer vielseitigen Tätigkeit als Biologin und Autorin von Büchern und Beiträgen zur Pflanzenkommunikation befasst sich Florianne Koechlin, geb. 1948, mit zukunftsfähigen Konzepten in der Landwirtschaft. Sie leitet seit vielen Jahren das Blauen-Institut, ausserdem malt und zeichnet sie, was sie in der Natur entdeckt.

Florianne Koechlin, Von Böden die klingen und Pflanzen die tanzen. Neue Streifzüge durch wissenschaftliches Unterholz. Lenos Verlag 2021. Seiten 275.  ISBN 978-3-03925-010-3

Titelbild: Mimosa pudica, Fabaceae, Mimose, Schamhafte Sinnpflanze, Infloreszenzen; Botanischer Garten KIT, Karlsruhe  © H. Zell / commons.wikimedia.org

Florianne Koechlin hält auch Vorträge.

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