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Wehe, wenn sie losgelassen…

Gesellschaftliche Veränderungen kommen meist schleichend daher, zeigen sich oft durch seismografisch unscheinbare Erschütterungen, selten eruptiv, werden eher als Tendenz wahrgenommen oder als Modeerscheinungen. Einige sind unbedenklich, andere rütteln an den Grundfesten unseres Selbstverständnisses. Was kommt da noch alles auf uns zu?

Vorsicht: Die aufgeführten Erkenntnisse sind in ihrer Tragweite keineswegs gleichbedeutend, haben unterschiedliches Gewicht, sprechen z.T. lediglich Partikularinteressen an, haben eine beschränkte Halbwertzeit, stimmen nachdenklich, sind unbedacht bis verstiegen. Aber etwas ist ihnen gemein: die Unversöhnlichkeit, die Radikalität ihrer Forderungen, die gesellschaftspolitische Verblendung, der Hass gegen Andersdenkende, die kultische Selbstbeweihräucherung wider jede Vernunft.

Die USA waren schon immer Trendsetter für viele Bewegungen und Entwicklungen, progressive und regressive, selbstverliebte und populistische, meinungsbildend in den Medien, omnipräsent auf allen sozialen Kanälen. Die Ära Trump hat die Gegensätze dann nur noch virulenter gemacht, ihre hässliche rassistische Fratze gezeigt, den Riss durch alle Gesellschaftsschichten offenbart. Der Sturm seiner Anhänger vom 6. Januar auf das Kapitol war dann nur noch Zugabe, um aufzuzeigen, wie demokratische Entscheidungen radikal hintertrieben wurden und den Hohn gegen Andersdenkende schürten. Der US-Kongress ist eben daran, die Abgründe auszuleuchten. 

Doch auch die Gegenseite goss Öl ins Feuer. Die „Black Lives Matter“-Bewegung war nicht nur eine ermutigende Machtdemonstration gegen jegliche Form der Diskriminierung. Einige ihrer Exponenten schossen auch über das Ziel hinaus, indem sie ihre Identitätspolitik auf die Spitze trieben. Als das Gedicht von Amanda Gorman, das sie zur Inauguration von Präsident Joe Biden vortragen durfte, von weissen Deutschen, Niederländerinnen und Katalanen übersetzt wurde, ging ein Schrei der Empörung durch die „People of Color“ (Schwarze darf man nun ja auch nicht mehr sagen). Die Qualität der Übersetzung war zweitrangig, die falsche Hautfarbe war das Problem. Bereits streitet man/frau in den USA heftig darüber, weshalb eher hellhäutige Afro-Amerikanerinnen und Latinos in Filmen, Serien und Musicals zum Handkuss kommen. Die gegenseitigen Schuldzuweisungen treiben seltsame Blüten und werden von den TV-Stationen zur Hebung der Einschaltquoten noch händereibend angeheizt. Sachlichkeit bleibt auf der Strecke, blinde Rechthaberei hat längst das Szepter übernommen. Auch Schweizer Verlage sind irritiert. Der grösste unter ihnen, Diogenes, der viele US-Autorinnen und Autoren betreut, setzt nach wie vor auf Qualität und das Flair für die authentische Tonalität und nicht auf fragwürdige Emotionen.  

Die hellhörige Schweiz reagierte auf allfälligen Rassismus prompt, wollte sich keinesfalls irgendwelchen Vorwürfen aussetzen und zog in voreiligem Gehorsam schon mal den Mohrenkopf aus dem Verzehr und ersetzte ihn durch Schokoküsse. Auch Zürich will das „M“-Wort auf Hausfassaden und Wirtshausschildern schnellstmöglich tilgen. Jetzt warten wir nur noch, ob Shakespeares „Othello, der Mohr von Venedig“ oder Verdis Opernadaptation hierzulande überhaupt noch gespielt werden dürfen. Die schwarze Schuhwichse, die sich weisse Darsteller noch vor Jahren in Zürich ins Gesicht strichen, ist dem gleichen Verdikt zum Opfer gefallen. Dabei ist die rasende Eifersucht des dunkelhäutigen Feldherrn nur glaubhaft nachzuvollziehen, wenn man ihn als fremden Mohren zeigt.   

Natürlich kommen auch viele Impf-Gegner und Verschwörungs-Theoretiker aus Amerika. Trump-Verehrer gehören zu ihnen wie das Amen zur Kirche. „Fake News“ waren nicht nur die wichtigsten Zugpferde der Trump-Rhetorik, sie dienen nach wie vor Millionen von Nutzern, um ihre Tiraden gegen alles zu verbreiten, was sie anzweifeln und hintertreiben wollen. Diese Halsstarre hat längst auch Europa erfasst. Die Schweiz kommt z.B. mit dem Ziel einer Herdenimmunität gegenüber Covid 19 nicht recht vom Fleck und muss nun angesichts steigender Ansteckungen und Virusvarianten die Rückkehr zur Normalität wieder aufschieben. Die Zahl der doppelt Geimpften liegt immer noch unter 50 Prozent und sollte dringend auf ca. 75 Prozent angehoben werden, damit wir uns im kommenden Winterhalbjahr nicht wieder empfindlich einschränken müssen, wenn die Fallzahlen weiter steigen. 

 Dass sich viele Pflegende aus diffusen Ängsten oder Eigennutz nach wie vor der Impfung verweigern, trägt ebenso wenig zur gewünschten Immunisierung der Bevölkerung bei wie Urlauber, welche nun während der Sommerferien in allen Hotspots die Ansteckungen wieder hochschnellen lassen oder das Tanzen und Feiern in Clubs nicht lassen können. Dass Radiopionier Roger Schawinski mit einer Impf-Lotterie 24’000 Franken aus dem eigenen Sack unter Impf-Willige streut, ist nicht mehr als eine zwar sympathische, aber auch etwas durchsichtige PR-Aktion des nimmermüden Medienturbos.

Zu einem anderen kontroversen Thema: Ebenso unversöhnlich geben sich leider auch viele Städter gegenüber der Landbevölkerung. Viele von ihnen wollen partout nicht zur Kenntnis nehmen, dass die Schaf- und Ziegenherden trotz eingeleiteter Sicherheitsmassnahmen dem unkontrollierten Überhandnehmen der Wölfe auf Dauer nicht gewachsen sind. Alle sind plötzlich kompromisslose Naturschützer – auch vom Bürosessel aus – und glauben in der Tat, dem Schweizerischen Schafzüchterverband und seinen Mitgliedern seien der Tier- und Landschaftsschutz nicht ein ebenso wichtiges Anliegen, sie, die Tag für Tag die grossen Herausforderungen meistern müssen. Woher kommt dieses unverrückbare Beharren auf dem eigenen Standpunkt? Hoffen wir, dass er nicht auch noch zum unausrottbaren Virus verkommt. 

Geradezu mediengeil verhält sich je länger, je schriller die ganze LGBTQI+-Community, welche die geschlechtsspezifischen und sexuellen Orientierungen von der Privatsphäre immer häufiger in die öffentlichen Social Media und in die Boulevardblätter verlegen und ihresgleichen bestürmen, sich nun doch endlich zu outen. Für die Medien gibt es nichts Langweiligeres als der courant normal, das Brot verdienen sie viel lieber mit prickligen News. Achtung und Respekt vor jeder Selbstfindung muss selbstverständlich sein. Das kann auch mal durch Regenbogenfahnen oder den Kniefall von Sportlern bezeugt werden. Aber wie lange müssen wir uns noch über alle Kanäle sagen lassen, wie rückständig und altbacken wir sind, wenn wir nicht jedem Zeitgeist nachhecheln? 

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1 Kommentar

  1. Zum Thema Übersetzungen (3. Textabschnitt):
    Caroline Fourest: «Generation Beleidigt…». Edition Tiamat, Berlin 2020, ISBN 978-3-89320-266-9.
    lehrreich ud beängstigend!

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