Arab und Tarzan Nasser erzählen im Spielfilm «Gaza mon amour», wahren Begebenheiten folgend, die berührende Liebesgeschichte zweier alten Menschen in einer chaotischen Umwelt.
Der 60-jährige Junggeselle Issa führt ein ruhiges, einsames Leben als einfacher Fischer im Hafen von Gaza. Heimlich verliebt er sich in die Witwe Siham, die er täglich an ihrem Marktstand beobachtet, wo sie als Schneiderin arbeitet. Sein Liebeswerben verläuft allerdings so versteckt, dass sich kaum Fortschritte einstellen. Als ihm eines Tages ein ungewöhnlicher Fang ins Netz geht, ist es mit dem ruhigen Leben vorbei. Eine antike Apollo-Statue mit unübersehbarem erigiertem Penis stürzt den Fischer ins Chaos. Eine solch obszöne Figur ruft die Sittenpolizei von Gaza auf den Plan. Er muss einen Gang zulegen, um sich aus den Fängen der Behörden zu befreien und endlich sein Liebesleben in den Griff zu bekommen.
In ihrem zweiten Film gelingt es den aus Palästina stammenden, heute im Exil lebenden Zwillingsbrüdern Arab und Tarzan Nasser mit ihrer stillen, doch authentischen Geschichte die gesellschaftspolitischen Themen einzubeziehen, die das Leben im von Israel besetzten Gazastreifen prägen: das wirtschaftliche Elend, Bombenangriffe, Angst und Unsicherheit. Doch «Gaza mon amour» ist kein politisches Melodrama, sondern eine charmante, witzige, doppelbödige Komödie über die Kraft der späten Liebe in einem bedrückenden Umfeld. Die beiden Protagonisten agieren mit Strahlkraft: die grossartige, aus andern Filmen bekannte Hiam Abbas und der eher verschlossene Salim Dau. Ein Film, der in Gaza handelt, in Jordanien und Spanien gedreht wurde und das Festivalpublikum in Venedig und Toronto begeistert hatte.
Die Geschichte, die gelegentlich vorhersehbar ist, wird von gewissen Kritikern bemängeln; ich empfind sie gerade in dieser Form schön, weil sie wie in den Märchen die Ereignisse vorausahnen und dann zur Bestätigung erleben lässt. – Gerne überlasse ich es den Regisseuren, uns nachfolgend in ihren Film einzuführen.
Issa mit dem gefangenen Apollo
Aus einem Statement der Regisseure Arab und Tarzan Nasser
«Gaza mon amour» ist ein zärtlicher und zugleich bissiger Film, inspiriert von wahren Begebenheiten. Im Jahr 2014 fand ein Fischer aus Gaza eine Statue von Apollo im Meer. Die Hamas beschlagnahmte diese und begann, nach einem ausländischen Käufer zu suchen, in der Hoffnung, damit Geld zu verdienen. Niemand weiss, was mit der Statue passiert ist. Gerüchten zufolge wurde sie nie verkauft und schliesslich bei einem Luftangriff zerstört. Es war dieselbe Regierung, die im Jahr 2007 die Statue des Unbekannten Soldaten, die ebenfalls in Gaza gefunden wurde, unter dem Vorwand, dass die Religion diese Kunst verbiete, zerstört hatte. Das Verhältnis der radikalen Islamisten zur Kunst ist absurd; wir selbst haben an der Universität von Gaza Kunst studiert. Nach dem Putsch und der Machtübernahme durch die Hamas wurden Aktbilder, gewisse Landschaften und sogar der Unterricht über ganze Epochen verboten. Es war traurig zu beobachten, dass die Regierung keine Idee hatte, was sie mit der Apollo-Statue anstellen sollte, ausser sie in den tiefsten Keller eines hohen Offiziers zu verbannen. Das alles aber hat unsere Fantasie angeregt: Was kann aufregender sein, als sich den Gott der männlichen Schönheit, der einen alten Fischer und eine fleissige Witwe, die Menschen in deren Umfeld und eine heuchlerische, rückständige Regierung gehörig aufzumischen?
Mit diesem Film möchten wir einen Einblick in das alltägliche Leben auf diesem kleinen Fleckchen Erde namens Gaza geben. Es ist ein seltsamer Ort, wo die einfachsten Situationen kompliziert werden und es unendliche Probleme gibt: politische, finanzielle, soziale. Die israelische Besatzung ist für alle hart. Durch die Belagerung hat das palästinensische Volk seit Jahrzehnten kaum Luft zum Atmen, besonders in Gaza. Im Namen der Religion und Traditionen führt eine Regierung, die eigentlich eine islamistische Bewegung ist, das Land mit eiserner Härte. Jeder Versuch, Dinge von innen heraus zu ändern, wird abgewürgt. Wir Palästinenser*innen befinden uns in einem Teufelskreis. Mit der Zeit lernt man, sich selbst in die Schranken zu weisen. Wir haben gelernt, dass es unmöglich ist, zu sagen, was wir denken, oder uns zu geben, wie wir sind.
Die Menschen leben in ständiger Angst: vor dem Leben, dem Morgen, vor Israel, der Hamas und so weiter. Für uns sind Träume die einzige Möglichkeit, die Realität zu ertragen. Das ist auch die Geschichte, die wir durch die Augen von Issa, unserer Hauptfigur, erzählen. Er ist ein einfacher, schüchterner Mann, der nicht wirklich weiss, wie er seine Gefühle ausdrücken soll. Einen solchen Mann kann man überall in Gaza treffen, einen Mann, der einfach nur in Frieden leben möchte. Doch er hat keine andere Wahl, als sich in seine Fantasie zu flüchten und nur in seinen Träumen das Leben zu leben, das er sich wünscht.
Die Liebe und alles Körperliche, das sie mit sich bringt, ist ein wichtiger Teil im Leben jedes Menschen. Und doch ist sie, wie überall in der arabischen Welt, ein Tabu in der heutigen palästinensischen Gesellschaft. Wenn wir über Sex reden, sind Angst und Scham nicht weit. In unserer Geschichte ist Apollos erigierter Penis ein Symbol für Macht und Autorität, aber auch für die Liebe. Wenn also der Penis dieser Statue gerade in Gaza abbricht, ist das eine starke Metapher. Wir wollen zeigen, dass Liebe und Sex hier unterdrückte Fantasien bleiben. – Schluss des Statements.
Issa (Salim Dau) und Siham (Hiam Abbass)
Im Vorder- und im Hintergrund
Im Vordergrund des schönen und berührenden Films bewegen sich zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, aufeinander zu: Der 60-jährige ledige Fischer Issa und die etwa gleichaltrige verwitwete Schneiderin Siham. Diese Bewegung wird immer wieder durch die andere Geschichte unterbrochen, in der statt Fische eine lebensgrosse Apollo-Figur aus dem Wasser gezogen und damit viel Durcheinander ausgelöst wird und die Liebesgeschichte nur langsam vorankommt.
Issa hat einen Freund, mit dem er sich über das miserable Leben in Gaza und eine Jugendliebe unterhält, nicht aber über seinen aktuellen Heiratswunsch; seine Schwester stellt ihm vier heiratsfähig Frauen vor, die er jedoch ablehnt, da er sich im Geheimen bereits entschieden hat. Siham, die sich gern mit ihrer erwachsenen Tochter streitet, kommt aber gleichwohl mit ihr auf Liebe, Sex und Heirat zu sprechen. Bei den Frauen ist vieles an ihrer feinen Mimik, bei den Männern an ihrer lauten Gestik abzulesen.
Im Verlauf der Apollo-Geschichte trifft der Fischer auf schlafende Zöllner, sture Soldaten, des Lesens unkundige Beamte und beim Essen Kriegsfilme konsumierende Soldaten. Er kommt an eine Demonstration, bei der eine Rakete bejubelt wird. Später hört er am Radio von einem israelischen Angriff. Sie und er leiden unter der maroden Elektrizitätsversorgung und der schlechten Wirtschaftssituation.
Das alles schlägt auf die Gemüter der palästinensischen Bevölkerung, vor allem in Gaza. Es hemmt, blockiert, verhindert und zerstört jede Hoffnung. Und dennoch tut sich etwas, wenn auch in kleinen Schritten, in der Beziehung von Issa und Siham: Ein scheues Blicken, ein Schritt an der Busstation in ihre Nähe, dann bietet er ihr einen Regenschirm an, bringt er ihr eine Hose zum Ändern, schliesslich spricht er die entscheidenden Sätze an sie mehrmals zu Hause vor dem Spiegel, bis er zu ihr die Treppe hochsteigt und anklopft. – Wie alles endet, lass ich offen, es erinnert mich an den bekannten Satz von Albert Camus: «Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.»
Siham und Issa im Minibus
Weiterführende Literatur und Filme
Ein verwandtes Buch: «Aphrodite in Gaza»
Beatrice Guelpa: «Aphrodite in Gaza. Ein aus dem Sand aufgetauchtes Museum». Ein Bauunternehmer entdeckt eine Aphrodite-Statue aus der Zeit vor Christus in Gaza. Mit interessanten Bezügen zur Schweiz.
Ein verwandter Film: «L’Apollon de Gaza»
Am Beispiel eines angeblich archäologischen Fundes zeigt der dokumentarische Vorläufer von «Gaza mon amour» des Schweizer Filmemachers Nicolas Wadimoff mit «L’Apollon de Gaza».
Besprechungen von 38 weiteren Filmen
Zu den Themen Palästina, Israel, Judentum und Islam sind auf der-andere-film.ch Besprechungen zu 38 weiteren Filmen zu finden, die sich als Ergänzung, Ausweitung oder Weiterführung zu «Gaza mon amour» anbieten.
Titelbild: Siham (l) und Issa