StartseiteMagazinGesellschaftAntonia Jann: "Ja, soziale Kontakte sind sehr wichtig"

Antonia Jann: «Ja, soziale Kontakte sind sehr wichtig»

Wie kann man im Alter unabhängig, selbstbestimmt, sicher und barrierefrei leben? Welche Wohnformen sind erforderlich, damit ältere Menschen altersgerecht wohnen können? Seniorweb sprach mit Antonia Jann, Leiterin der Age-Stiftung, die Wohn- und Betreuungsprojekte für ältere Menschen finanziell unterstützt. 

Seniorweb: Bekanntlich hat die Wohnsituation grossen Einfluss auf die Lebensqualität, das Wohlergehen und die Zufriedenheit – im Alter noch mehr als in jüngeren Jahren. Wie schätzen Sie die Wohnsituation der älteren Menschen bei uns ein?

Antonia Jann: Sie haben recht – Wohnen ist für die älteren Menschen noch wichtiger als für die jüngeren. Wenn körperliche Schwächen den Alltag mühsamer machen, so ist die Wohnung ein wichtiger Rückzugsort, wo man sich wieder erholen kann. Für das gute Wohnen sind verschiedene Faktoren wichtig. Unter anderem sind dies die Lage, die Infrastruktur, wie Arzt, Laden, ÖV, die Zugänglichkeit zur Wohnung, die Wohnungsmiete und die Nachbarn.

Die Bedürfnisse und Ansprüche im Alter sind sehr unterschiedlich. Welche Erwartungen an eine geeignete Wohnform im Alter werden heute am meisten gestellt?

Wir reden zwar oft von «Wohnformen» im Alter. Aber oft meinen wir eher «Wohnsituationen». Der Unterschied liegt darin, dass bei den «Wohnformen» ein spezielles Angebot gemeint ist, das sich an ältere Menschen richtet. Das sind zum Beispiel Alters- und Pflegeheime, Betreutes Wohnen, Wohngemeinschaften etc. Zum Betreuten Wohnen gibt es zwei interessante Age-Dossiers, in welchen auch sichtbar wird, wie unterschiedlich die Angebote sein können. Das Dossier 2016 zeigt Beispiele von betreuten Wohnangeboten, die an Pflegeinstitutionen angebunden sind. Im Dossier 2020 findet man Beispiele für Alterswohnungen mit einer Kontaktperson vor Ort.

Statistisch gesehen sind diese «Wohnformen» aber eher selten. Sogar die Menschen über 90 leben mehrheitlich zu Hause. Neuere Zahlen vom Schweizerischen Gesundheitsobsevatorium zeigen, dass weniger als 1 Prozent der Menschen über 80 in einer Alterswohnung oder im betreuten Wohnen lebt. Auch die Zahl der Menschen, die in Haus- oder Wohngemeinschaften leben, ist über das Ganze gesehen sehr gering.

Wohnen im Alter findet also zum grössten Teil zu Hause statt. Und da kommt es dann drauf an, ob die Wohnsituation besser oder schlechter ist. Wer in einem kleinen Dorf ohne Laden in einem alten Haus wohnt, gerät schneller an Grenzen als jemand, der hindernisfrei zum Einkaufen kommt.

Das Angebot an Wohnformen im Alter ist heute sehr vielfältig. Welche Wohnformen und Wohnkonzepte erfüllen am ehesten die Ansprüche älterer Menschen?

Die Bedeutung der baulichen Komponenten habe ich bereits erwähnt. Wichtig ist aber auch die soziale Komponente. Gerade wenn man viel zu Hause ist, ist es wichtig, dass man gute Nachbarn hat und in ein soziales Umfeld eingebettet ist. Wohnprojekte, die Begegnungsmöglichkeiten erleichtern, sind bei älteren Menschen grundsätzlich gefragt. Die wenigsten älteren Menschen möchten in einem Umfeld leben, wo es ausschliesslich ältere Menschen hat. Die Begegnungen mit anderen Generationen sind ihnen wichtig. Auch wenn es weniger ruhig ist als in einer reinen Alterssiedlung. Auch dazu gibt es ein aktuelles Age-Dossier, das aufzeigt, was beim Generationenwohnen wichtig ist.

Gibt es Wohnformen im Alter, die aufgrund steigender Nachfrage speziell gefördert werden müssen?

Es ist sicher gut, wenn es in jeder Gemeinde Wohnraum hat für Menschen, die nicht mehr allein leben können. Darüber hinaus möchte ich die älterwerdenden Menschen ermutigen, sich gut zu überlegen, ob sich ein Umzug in eine neue Wohnung lohnen würde. Oftmals ist der Mietzins zwar höher, dafür ist die Umgebung barrierefrei und man hat die Möglichkeit, neue Nachbarn kennen zu lernen. Gerade in diesem Punkt sehe ich ein gewaltiges Potential. Wie oft wohnen Menschen zusammen in einem Haus und kennen niemanden. Um das Wohlbefinden und die Lebensqualität zu verbessern braucht es nicht viel, es ist schon wichtig, dass die Leute sich grüssen und vom Sehen kennen. Daraus kann dann mehr entstehen, wenn die Sympathie da ist.

Muss die öffentliche Hand vermehrt in die Pflicht genommen werden, geeignete Wohnformen für ältere Menschen zu bezahlbaren Konditionen zur Verfügung zu stellen?

So pauschal würde ich das nicht bejahen. Es gibt in allen Altersgruppen Personen, die auf eine günstige Wohnung angewiesen sind. Aber man kann sich durchaus vorstellen, dass Ideen entwickelt werden, die älteren Menschen erlauben, zu günstigeren Konditionen in eine neue Wohnung zu ziehen. So gibt es in Basel ein Angebot, das Personen über 65 Jahren zum (fast) gleichen Quadratmeterpreis erlaubt, in eine neue kleinere Wohnung einziehen zu können. Somit wird die grössere Wohnung für eine Familie frei und die Seniorin hat eine neue, kleinere Wohnung, die komfortabler ist. 

Betreutes Wohnen wird aufgrund der demografischen Alterung immer wichtiger. Welche Lösungen bieten sich an, um der wachsenden Nachfrage nach Unterstützung besser gerecht zu werden?

Dass immer mehr Menschen zu Hause Unterstützung brauchen, ist tatsächlich absehbar. Das muss jedoch nicht immer in betreuten Wohnungen stattfinden. Man kann durchaus mit der Spitex und anderen Unterstützungsleistungen in der eigenen Wohnung betreut werden. Jedoch ist in betreuten Wohnungen die Unterstützung und Pflege unter Umständen einfacher und günstiger zu organisieren. Und viele ältere Menschen ziehen es auch vor, in ein betreutes Wohnen zu wechseln, um nicht alleine für alles verantwortlich sein zu müssen.

Für ältere Menschen sind Begegnungen und Austausch mit Jung und Alt sehr wichtig.

Wichtig sind soziale Kontaktmöglichkeiten im Alter, so die Nähe zur Familie und zum Freundes- und Bekanntenkreis. Mit welchen Wohnformen können soziale Kontakte am ehesten gefördert werden?

Ja, soziale Kontakte sind sehr wichtig. Wenn man nahe bei der Familie wohnt, ist das natürlich praktisch. Wenn man weiter entfernt wohnt, empfiehlt es sich, regelmässige Telefontermine oder Besuche abzumachen. Für die Vernetzung mit den Nachbarn ist es wichtig, dass es im Wohnumfeld Gelegenheiten gibt, wo man sich begegnen und austauschen kann. So können sich Sympathien oder Freundschaften entwickeln, und es besteht die Möglichkeit, dass die Menschen einander unterstützen – etwas, was notabene auch den Helferinnen und den Helfern ein gutes Gefühl gibt.

Kurz gesagt: Es hilft, wenn die baulichen Gegebenheiten Begegnungen ermöglichen oder erleichtern. Das bauliche allein nützt aber nichts. Die Menschen müssen sich selbst um Kontakte bemühen. Weil das vielen nicht leicht fällt, haben mittlerweile einige Wohnbaugenossenschaften professionelle Kontaktpersonen angestellt, die den Austausch zwischen den Mieterinnen und Mietern fördern.

Für viele ältere Menschen ist der Verbleib in der eigenen Wohnung, im eigenen Haus wichtig. Welche Voraussetzungen und Anpassungen müssen erfüllt sein, damit dies möglich ist?

Wie lange jemand zu Hause bleiben kann, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Wenn wir bei den baulichen Themen anfangen: Ein hindernisfreier Zugang zum Haus ist schon mal nicht schlecht. Auch eine Dusche im Badezimmer ist mit gewissen Behinderungen praktischer als eine Badewanne. Handläufe auf beiden Seiten von Treppen können für ältere Menschen eine grosse Hilfe darstellen. Und natürlich sind Bezugspersonen, die jemanden unterstützen können, eine ganz wichtige Voraussetzung.

Vorab junge Familien bekunden heute Mühe, eine geeignete Wohnung zu finden. Dagegen verbleiben viele ältere Menschen in zu grossen Wohnungen. Welche Anreize sind erforderlich, um einen vermehrten Wohnungswechsel zu ermöglichen?

Grundsätzlich finde ich nicht, dass ältere Menschen unbedingt in kleinen Wohnungen leben müssen. Sie sollten, ebenso wie jüngere, die Wahl haben, wie sie leben. Mit unserem Mietergesetz werden aber langjährige Mieter belohnt und Personen, die eine neue Wohnung suchen, müssen höhere Preise bezahlen. Viele ältere Menschen ziehen deshalb nicht aus grossen Wohnungen aus. Das kann aber auch zu einem Bumerang werden: Wer allzu lange in einer Wohnung bleibt, die zwar günstig, aber nicht alterstauglich ist, muss unter Umständen früher damit rechnen, dass er unfreiwillig ausziehen muss. Ich plädiere dafür, sich gut zu überlegen, ob sich eine «Investition» in eine stabile, praktische Wohnsituation lohnt. Das kann auch bedeuten, dass man sich für eine Umzug entscheidet, um voraussichtlich länger zu Hause bleiben zu können.

Ihre Stiftung fördert vorab das Wohnen im Alter. Welche Unterstützung bieten Sie an und welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?

Wir unterstützen Personengruppen und Organisationen, die neue Erkenntnisse zum Wohnen im Alter ausprobieren und umsetzen möchten. Auf unserer Webseite hat es einen ganzen Strauss von spannenden Beispielen. Zum Beispiel einen Kurzfilm über die kleine Hausgemeinschaft Bühl in Gsteigwiler oder den Schlussbericht zum Mehrgenerationenwohnen Betlehem im Ingenbohl. Zu jedem Projekt gibt es einen Projektabschluss, in dem man nachlesen kann, was funktioniert und was heikel ist. 

Gibt es Projekte und Modelle für das Wohnen im Alter, die Sie als besonders zukunftsweisend erachten?

Das ist eine schwierige Frage. Ich glaube es braucht viele verschiedene Angebote, weil auch die Bedürfnisse sehr verschieden sind. Aber aus meiner Sicht haben generationengemischte Wohnformen eine bessere Zukunft als reine Altersprojekte. Viel Potential hat aus meiner Sicht auch die Ausrüstung von Zugängen und Treppen mit Handläufen. Und wie bereits gesagt, finde ich Konzepte zukunftsträchtig, die das Kennenlernen von Nachbarn und die niederschwellige Unterstützung im Quartier fördern.

Titelbild: Ein Verbleib in der eigenen Wohnung erfordert oft bauliche Anpassungen. Fotos: Age-Stiftung 


Dr. Antonia Jann ist promovierte Gerontologin. Sie leitet seit rund 20 Jahren die Age-Stiftung, die sich mit dem Thema Wohnen und Älterwerden beschäftigt. Ursprünglich studierte Antonia Jann Pädagogik, Psychologie und Publizistikwissenschaft an der Universität Zürich. Sie lebt in Zürich und hat zwei Töchter sowie zwei Enkelkinder.

www.age-stiftung.ch

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