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Angehörigenberatung in der Psychiatrie

Angehörige von Personen mit einer psychischen Erkrankung haben oft viele Fragen und Sorgen: Wird er/sie wieder gesund? Soll er/sie in eine psychiatrische Klinik? Was können die Nächsten tun während des Klinikaufenthalts des Angehörigen? Welche Unterstützung ist nach dem Austritt aus der Klinik erwünscht, gefordert, machbar? Zu wem können Angehörige mit ihren Sorgen, Ängsten und Bedenken gehen?

Menschen mit einer psychischen Erkrankung haben Angehörige, die einerseits oft selbst Unterstützung brauchen, anderseits äusserst wertvolle Hilfe leisten. Deswegen werden Angehörige psychisch erkrankter Menschen in eine ganzheitliche Behandlung miteinbezogen. Wie geht das? Dazu konnte Seniorweb mit der Leiterin der Angehörigenberatung der Psychiatrie St. Gallen Nord in Wil, Edith Scherer, ein Gespräch führen.

Edith Scherer, Sie sind seit 14 Jahren Leiterin der Beratungsstelle für Angehörige von Personen mit einer psychischen Erkrankung in Wil. Warum braucht es Beratungsstellen für Angehörige? 

Edith Scherer: Angehörige werden durch eine psychische Erkrankung einer ihnen nahestehenden Person oft stark in Mitleidenschaft gezogen, sind irritiert, kennen sich nicht mehr aus, haben Fragen und Sorgen und sind oft grossen emotionalen Belastungen ausgesetzt. All das kann man mit uns besprechen.

Die erste Angehörigenberatungsstelle wurde in dieser Klinik vom damaligen Chefarzt Hanspeter Wengle vor 21 Jahren eingerichtet und blieb lange die einzige in der Schweiz. Mittlerweile gibt es viele Angehörigenberatungsstellen und es wurde ein Netzwerk Angehörigenarbeit Psychiatrie (NAP) gegründet, in welchem Sie im Vorstand sind.

Das NAP umfasst aktuell um die 27 Angehörigenberatungsstellen von zumeist kantonalen psychiatrischen Kliniken, aber es gibt auch einige Privatkliniken. Zweck des Netzwerks ist einerseits die gegenseitige Förderung der Fachleute untereinander durch Weiterbildungen und Professionalisierung der Angehörigenarbeit, anderseits wollen wir Angehörige direkt informieren auf unserer Website www.angehoerige.ch über Arbeitsmaterialien, Literaturlisten, Informationsbroschüren, Angehörigentagungen, Selbsthilfegruppen.

Offenbar besteht ein grosser Handlungsbedarf. Was sind die häufigsten Sorgen und Ängste, die Sie mit Angehörigen besprechen? 

Angehörige stellen oft folgende Fragen: Wie kann ich mich verhalten? Was kann ich noch von meinem (beispielsweise depressiven) Mann, meiner (beispielsweise dementen) Frau erwarten? Wie reagiere ich, wenn mein Kind psychotische Äusserungen macht? Was tue ich, wenn jemand aus meinem Umfeld seine psychische Krankheit gar nicht wahrhaben will? Es sind also mehrheitlich Fragen zum Umgang mit den allernächsten Menschen mit einer psychischen Erkrankung, aber auch allgemein zur Psychiatrie, zu Fragen des Eintritts oder Austritts aus einer Klinik. Des Weiteren gibt es rechtliche Fragen, beispielsweise ob man jemand gegen seinen Willen in eine Klinik einweisen darf oder zur Schweigepflicht, zum Schweigerecht, also zur Frage, wem gegenüber darf /muss man als Angehöriger Auskunft erteilen.

Welche Arbeitsteilung besteht zwischen den direkt behandelnden Fachleuten und der Angehörigenberatung?

Ein Erfolgsrezept der Angehörigenberatung ist sicher, dass Angehörige von der Angehörigenberatung nichts erfahren über die psychisch erkrankte Person selbst. Da müssen die nächsten Angehörigen sich direkt mit den behandelnden Psychiatern und Psychologen in Verbindung setzen, wenn sie berechtigt sind, Informationen einzufordern. Wenn Angehörige aber von der Situation überfordert sind, werden sie oft von den behandelnden Ärzten und Therapeuten an die Angehörigenberatung verwiesen. Viele Angehörige machen sich selbst Vorwürfe oder schämen sich, meinen, sie würden zu wenig Unterstützung bieten oder fühlen sich ohnmächtig, hilflos, verzweifelt. Dann kann ein Gespräch mit der Angehörigenberatung oft stärkend und klärend wirken.

Edith Scherer, die Leiterin der Beratungsstelle für Angehörige im Gespräch

 Was können Angehörige tun, wenn sie sich überfordert fühlen?

 Wichtig ist, dass sie ein gutes Gefühl entwickeln, was sie selbst brauchen, was ihnen guttut, mit wem sie die Verantwortung teilen oder auch mal abgeben können, um sich selbst eine Auszeit zu nehmen. Weiter ist es wichtig, dass man sich nicht abkapselt und sich schämt und schuldig fühlt. Was Angehörige brauchen, kann sehr unterschiedlich sein, es gibt hier keine Patentrezepte. Viele tauschen sich gern aus in Selbsthilfegruppen, anderen ist das zu viel und sie verbringen ihre «Freizeit» lieber anders.

Wie gelangen Angehörige neben den Gesprächen mit den behandelnden Fachleuten und der Angehörigenberatung an wertvolle Informationen im Internet, um ihre Unterstützung und Betreuung zu verbessern?

Statt wild im Internet herumzusuchen, kann man sich von Beratungsstellen wertvolle Linklisten geben lassen, die für Angehörige und Betroffene hilfreich sind. Da uns die Psychoedukation wichtig ist, möchten wir, dass Angehörige und Betroffene über die Krankheitsbilder, die sie betreffen, zu einem besseren Verständnis gelangen und über Therapiemethoden und Selbsthilfemassnahmen aufgeklärt werden und dadurch besser für sich sorgen können.

 Es kommt nicht selten vor, dass Angehörige mit den durchgeführten Therapien in und ausserhalb der Klinik unzufrieden sind. An wen können sie ihre Bedenken richten?

Dafür gibt es verschiedene Anlaufstellen: Zunächst die behandelnden Fachleute selbst. Wenn das unbefriedigend ist, kann man bis zur Klinikdirektion gelangen oder an die unabhängige kantonale Ombudsstelle.

Wie gelangen Angehörige zu Kontakten mit Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind und mit denen sie sich beispielsweise telefonisch oder im Rahmen einer Selbsthilfegruppe austauschen können?

Da es ja jetzt in allen Teilen der Schweiz Angehörigenberatungsstellen gibt, kennen die Stellen Leute vor Ort, Selbsthilfegruppen, Organisationen, weiterführende Adressen in der unmittelbaren Umgebung, so dass so wertvolle Kontakte geknüpft werden können. Eine weitere wichtige Anlaufstelle ist die VASK. Sie bietet ebenfalls regional verschiedene Selbsthilfegruppen an.

Wer hat Anspruch auf Angehörigenberatung und wer finanziert sie?

Angehörigenberatung können Angehörige von psychisch beeinträchtigten Personen beanspruchen, die innerhalb und ausserhalb der Klinik behandelt werden. Das Angebot ist kostenlos und wird von den Psychiatrischen Klinik selbst, also letztlich vom Steuerzahler finanziert. Diese Ausgaben sind kaum mehr bestritten, da der persönliche und soziale Nutzen offensichtlich ist. Auch finanziell lohnt es sich, Angehörigenberatungsstellen zu betreiben, da so Folgekosten eingespart werden können.

Besten Dank, Edith Scherer, für das Gespräch!


Edith Scherer ist Pflegefachfrau Psychiatrie und Leiterin der Angehörigenberatung in der Psychiatrie St. Gallen Nord in Wil. Sie ist zudem Vorstandsmitglied des Netzwerkes Angehörigenarbeit Psychiatrie (NAP). Zusammen mit Thomas Lampert hat sie 2017 das Buch «Basiswissen: Angehörige in der Psychiatrie» im Psychiatrie Verlag veröffentlicht. Kontakt: edith.scherer@psgn.ch

Weiterführende Links:

  • angehoerige.ch (Wertvolle Tipps; alle Angebote für Angehörige in diversen Kantonen)
  • promentesana.ch (Vereinigung für psychisch beeinträchtige Menschen; rechtliche Beratung von Angehörigen)
  • reden-kann-retten.ch (Informationen in einer Krise)
  • vask.ch (Dachverband der Vereinigungen von Angehörigen psychisch Kranker)

Fotos: Titelbild: Ansicht des Hauptgebäudes der psychiatrischen Klinik in Wil. Foto von Edith Scherer im Text (Beide Fotos von der Psychiatrie St.Gallen Nord in Wil zur Verfügung gestellt.) 

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