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Erzählungen aus einem Vogelparadies

Jacques Delamain, ein enthusiastischer Vogelkundler, berichtet von seinen Beobachtungen in «Warum die Vögel singen». Der Lenos Verlag hat das Werk neu aufgelegt.

Noch bevor es wirklich Frühling wird, horchen wir darauf, ob die Amseln schon zu singen beginnen, die Spatzen ihr geselliges Gezwitscher wieder aufnehmen oder die Meisen sich mit ihren feinen, doch durchdringenden Rufen verständigen. In vielfältigem Gelände mit Wald, Wiesen und Feuchtgebieten leben mehr Vogelarten als anderswo. Die Charente im Westen Frankreichs ist eine solche Region.

Gleich im ersten Kapitel, das den Titel des ganzen Buches trägt, nimmt uns der Autor mit auf einen Spaziergang durch seine heimatliche Landschaft. Er erklärt uns, dass der Seidensänger «beim geringsten Argwohn fremder Gegenwart das Schilf mit dem Krakeel seiner gereizten und prahlerischen Stimme erfüllt»; oder etwas weiter: «Von einer Baumkrone zur anderen werfen sich die Finkenmännchen unaufhörlich ihren triumphalen Kehrreim an den Kopf». Delamain scheut keine Vergleiche mit menschlichem Verhalten! Es geht ihm vor allem darum, die Schönheit der Vogelstimmen angemessen in Worte zu fassen: «Der Lerche schallende Kaskaden, das heimliche und süsse Lied des Gimpels oder das silberhelle des Hänflings . . . »

Balthasar Friedrich Leizel (auch Leizelt): (von oben nach unten) Baumpieper, Haubenlerche, Heidelerche, Feldlerche (Illustration S. 23)

In dieser abwechslungsreichen westfranzösischen Landschaft, geprägt von der Charente, lebte Jacques Delamain (1874 – 1953). Aus einer gutsituierten Familie stammend, konnte er es sich leisten, seine Leidenschaft zu pflegen: Die Beobachtung und Aufzucht von Vögeln. Er widmete sich seinen Forschungen mit grossem Engagement und schaffte für bedrohte Vogelarten Rückzugsmöglichkeiten auf seinem Grundbesitz. Wir können ihn zu einem der frühen Vogelschützer zählen. – Zum Vergleich: Die Schweizerische Vogelwarte wurde 1924 gegründet.

Sein Bruder Maurice hatte als Buchhändler in Paris den Verlag Stock übernommen. So konnte Jacques dort mehrere Werke über seine Vogelforschungen veröffentlichen. – Die Editions Stock gehören zu den ältesten und renommiertesten Verlagen Frankreichs. – Das vorliegende Buch, 1928 erschienen, wurde von der Académie des sciences in Paris ausgezeichnet.

Der Titel Warum die Vögel singen ist vor allem der Aufhänger des Buches. Wie Delamain wissen wir heute, dass Vögel mit ihrem Gesang Weibchen anlocken, Konkurrenten – artfremde oder arteigene – vertreiben wollen und ihr Territorium verteidigen. Ob sie nebenbei einfach aus Lebensfreude jauchzen und zwitschern, bleibt der Imagination der Dichter überlassen. Solch eine poetische, ja romantische Ader besitzt Jacques Delamain ebenfalls. So genau und korrekt seine Beobachtungen sind, er schreibt darüber mit viel Empathie und Engagement. Er betrachtet die Vögel im Familienverband, als «Freunde» oder Konkurrenten in ihrem Lebensraum.

Balthasar Friedrich Leizel (auch Leizelt): Grünfink (Illustration S. 57)

Die Kapitel folgen dem Leben der Vögel im Verlauf der Jahreszeiten, von der Frühlingswanderung über Die Hochzeit, Der Fluss, wo wir viel über die Vögel im und am Wasser erfahren, Die Übergangszeiten und Die Herbstwanderung. Im Kapitel über den Frühling beschreibt der Autor nicht nur, wie die Zugvögel aus ihren Winterquartieren zurückkommen, sondern wie Pflanzen, Schmetterlinge, Insekten, Kriechtiere aus dem Winterschlaf erwachen und wie alle Natur mit Farben belebt wird. Delamain scheut sich auch nicht, unter den Vögeln Freundschaft und Hass auszumachen – auch dies ein Kapitel. Als genauer Beobachter kennt er die Vogelarten, die gern in Gruppen siedeln, die verschiedenen Rohrsängerarten am Flussufer zum Beispiel, und im Gegensatz dazu andere Vögel, die Amsel oder das Rotkehlchen, die lieber für sich bleiben. So menschlich geprägt seine Sprache ist, seine Beobachtungen sind unbestechlich.

Wir lernen die verschiedenen Meisenarten in ihren Habitaten kennen; wir wandern mit dem Autor an der Charente entlang und fragen uns, ist die Landschaft so schön, weil sie so wunderbar beschrieben ist. Oder liebt Delamain seine Heimat so sehr, dass er nichts anders kann, als sie so sorgfältig und poetisch zu beschreiben. – Es ist ein Lesegenuss.

Die Charente zwischen Angoulême und Cognac / commons.wikimedia.org

Der Höhepunkt des Buches ist in meinen Augen das umfangreichste Kapitel über das Leben von Wiesenweihen während einer Saison. Diese Greifvögel zu beschreiben, liegt dem Autor besonders am Herzen, wie er in der ausführlichen Vorbemerkung zum Kapitel schreibt: «Die zärtlichen Räuber. – Geschichte einer Familie von Wiesenweihen». Es ist ein berührendes Plädoyer für den Vogelschutz und für den Kampf um intakte Landschaften als Grundlage für das Beziehungsnetz allen Lebens.

Wir könnten dieses Buch nicht so schätzen, wenn es nicht schon 1930 einen kongenialen Übersetzer gefunden hätte: Karl Wolfskehl (1869 – 1948), Schriftsteller und Übersetzer. Er stand dem Dichterkreis um Stefan George nahe, gab mit ihm die Zeitschrift Blätter für die Kunst heraus und übersetzte aus dem Lateinischen, Englischen Hebräischen, Italienischen und Französischen. Als Jude musste er 1933 aus Deutschland flüchten; über die Schweiz, Italien und Frankreich kam er nach Neuseeland, wo er bis zu seinem Lebensende blieb.

Diese Neuausgabe enthält zahlreiche Illustrationen von Vögeln, geschaffen im 18. Jahrhundert vom Augsburger Maler und Kupferstecher Balthasar Friedrich Leizel (auch Leizelt). Er gehört zu den frühen Künstlern, die sich mit der wachsenden Bedeutung der Naturwissenschaften um genaue, naturgetreue Darstellungen bemühten.

Jacques Delamain: Warum die Vögel singen. Aus dem Französischen von Karl Wolfskehl. Herausgegeben und bearbeitet von Raffael Winkler. Mit 30 Illustrationen nach den handkolorierten Kupferstichen von Balthasar Friedrich Leizel. 2022 Lenos Verlag Basel. 219 Seiten. ISBN 978-3-03925-021-9

Titelbild: Balthasar Friedrich Leizel (auch Leizelt): Bluthänfling, oben Männchen, unten Weibchen (S. 191)

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