Das Tagebuch der Anne Frank ist weltberühmt und in mehr als 70 Sprachen übersetzt. Kaum bekannt ist, was dieser Weltbestseller mit der Schweiz zu tun hat. Eine Ausstellung im Landesmuseum.
Nein, wir konnten es uns bei den Lektionen zu Anne Frank in der Schule nicht wirklich vorstellen und können es jetzt ebensowenig (jedenfalls fast niemand von uns): Das Untertauchen für eine ungewiss lange Zeit und das Unsichtbarbleiben über Monate oder Jahre. Das Leben mit der Angst, jederzeit entdeckt zu werden, das Aufwachen und Einschlafen in ständiger Todesgefahr. Das haben Anne Frank und ihre Familie sowie vier weitere Menschen in einem Hinterhaus in Amsterdam vom 6. Juli 1942 bis 4. August 1944, also mehr als zwei Jahre, mitgemacht, vom schwierigen Alltag auf engem Raum nicht zu reden, bis ihr Versteck verraten und sie deportiert wurden. Anne Frank schrieb am 24. Mai 1944: „Das heißt hungern. Aber alles ist nicht so schlimm, wie entdeckt zu werden.
Die Erstausgabe des Tagebuchs: Het Achterhuis, «Das Hinterhaus», ein von Anne Frank selbst gewählter Titel. © Schweizerisches Nationalmuseum
Anne, ihre Schwester Margot und ihre Mutter wurden im Konzentrationslager ermordet, Annes Vater überlebte den Holocaust. Otto Frank zog in den 1950er-Jahren zu seiner Schwester nach Basel. Sein Leben widmete er der Aufgabe, das Tagebuch seiner Tochter in die Welt zu tragen, ihre Botschaft für Menschlichkeit und Toleranz für die kommenden Generationen zu erhalten und die Einkünfte des Fonds für Kinderhilfe einzusetzen.
Als er im Juni 1945 die Aufzeichnungen seiner Tochter von Miep Gies, Angestellte in Franks Geliermittelfabrik, dann Helferin der Untergetauchten, überreicht bekam, erkannte er deren Relevanz als bedeutendes Zeitdokument, aber auch als literarisches Zeugnis einer begabten jungen Autorin. Vor 75 Jahren wurde das Tagebuch in den Niederlanden veröffentlicht.
Faksimile des rot-weiss karierten Tagebuchs von Anne Frank, Amsterdam, 1942-1944. © Anne Frank Fonds Basel
Die Ausstellung im Landesmuseum zeichnet die Geschichte der Familie Frank anhand von Dokumenten, Objekten und Fotografien nach: Eine grossbürgerliche Familie, die standesgemäss lebt, Opernbesuche, Reisen, Fremdsprachen, Frankfurter Villa. Bildung und Musikunterricht sind lebenswichtig. Drei Söhne, eine Tochter, die Erich Elias heiratet. Zwei der Söhne kämpfen im 1. Weltkrieg. Ein Verdienstkreuz liegt in einer der Vitrinen.
Anne Frank und ihre Familie in Amsterdam am Merwedeplein, ihrem neuen Zuhause in Amsterdam, 1941. © Anne Frank Fonds Basel
Mit der Wirtschaftskrise wird es schwierig, mit dem Wahlsieg Hitlers erst recht. Elias reist mit seiner Familie nach Basel in eine prekär Sicherheit, Otto Frank sucht den Ausweg in Amsterdam. Beide gründen Zweige des deutschen Unternehmens Opekta, welches Geliermittel herstellt. Während sich Elias Söhne in Basel integrieren (Buddy Elias geht zum Turnverein RTV, macht eine Karriere als Clown und später als Schauspieler), lernen Margot und Anne Frank im Nu niederländisch. Mit den Verwandten in der Schweiz bleibt der Kontakt eng, lange und teure Telefongespräche werden geführt, Briefe und Schokolade werden verschickt, Fotos zeigen Anne mit und ohne Familie in den Schweizer Alpen während der Sommer- und Winterferien.
Aber die Niederlande werden besetzt, die Judengesetze treten in Kraft, es bleibt nur Untertauchen. Ein Büchergestell in einem Lager am Firmensitz ist die geheime Drehtür zum Versteck: Im Museumsnachbau der Ausstellung Anne Frank und die Schweiz steht ein Esstisch mit acht virtuellen Gedecken für die acht untergetauchten Personen, deren Porträt an der Wand dahinter hängt. Schatten von Kriegsflugzeugen über den Tellern, eine Explosion, der Tisch ist leer. Videos und Audios unterstützen die eindrückliche Geschichte, welche Fotos und Dokumente erzählen. Gegenüber den Porträts der Frank-Familie und ihrer Leidensgenossen hängen jene der Opekta-Angestellten, welche mit immer grösserer Mühe Lebensmittel ins Versteck brachten. Ein Radioapparat verweist auf die Informationsquelle der Eingeschlossenen.
Im Hinterhaus schreibt Anne Frank das Tagebuch und weitere Texte. Das grossformatige Foto empfängt die Ausstellungsbesucher.
Auch in Basel wird die Lage ungemütlich. Die Nationalsozialisten sind auch inder Schweiz aktiv, der Familie Elias wird die Staatsbürgerschaft entzogen, immerhin gelingt es Schwager Herbert Frank, mit einem gefälschten Ausweis aus Frankreich in die Schweiz einzureisen, das Beweisstück liegt in einer Vitrine, nahe bei einem Judenstern. Korrespondenzen und weitere Dokumente bringen den Besuchern wieder einmal nahe, wie unmenschlich die Schweizer Behörden und vor allem Fremdenpolizei agierten.
Blick in den Ausstellungsraum, in dem es an einem Bildschirm Auszüge aus dem Tagebuch zu lesen gibt.
1944 erfolgt in Holland ein Aufruf übers Radio, Kriegserlebnisse für später aufzuschreiben. Anne, die seit sie 13 ist, Tagebuch schreibt, macht sich nun an die Redaktion ihrer Texte. Sie wusste ja, dass sie Journalistin oder Schriftstellerin werden würde. Ihr letzter Eintrag ist vom 1. August 1944, drei Tage später werden die Leute aus ihrem Versteck verhaftet und mit dem allerletzten Zug vor der Befreiung der Niederlande nach Auschwitz deportiert. Nur Otto Frank kehrt zurück.
Otto Frank, zurück aus dem Konzentrationslager im leergeräumten Hinterhaus.
Eins der berührendsten Bilder der Ausstellung ist eine Fotgrafie von Otto Frank im leergeräumten Dachboden des Hinterhauses. Als Staatenloser zieht er zu seiner Schwester nach Basel, eine Einbürgerung ist erst 1952 möglich. Sein Leben widmet er dem Vermächtnis seiner Tochter Anne. Das Tagebuch wird nicht nur in Dutzende von Sprachen weltweit übersetzt, es entstehen auch Filme und Theaterstücke, die sich mit dem Schicksal der Familien Frank und Elias auseinandersetzen.
Sie sind davongekommen: die vier Geschwister Frank in Basel. © Anne Frank Fonds Basel
Das Landesmuseum kann dank der Zusammenarbeit mit dem Anne Frank Fonds Basel und dem Familie Frank Zentrum in Frankfurt das gefährliche und prekäre Leben von jüdischen Menschen in zwei Kleinstaaten während des zweiten Weltkriegs und in den Nachkriegsjahren authentisch nacherzählen. Anne Frank ist zur Ikone geworden, ihr Tagebuch wurde ins Unesco Weltdokumentenerbe aufgenommen und ist bis heute eins der wichtigsten Zeugnisse der Judenverfolgung im zweiten Weltkrieg.
Aber in dieser kleinen und feinen Ausstellung erleben wir sie als Menschenkind an der Schwelle des Erwachsenwerdens mit ihren Ambitionen, Freuden, Ängsten und auch alltäglichen Ärgernissen, welche der Alltag im Versteck mit den Radio-Botschaften von der Weltlage mit sich bringen.
Ausschnitt aus der Wand mit unzähligen Ausgaben des Tagebuchs in unzähligen Sprachen.
Die Ausstellung zeichnet auch die Wirkungsgeschichte des Tagebuchs nach, verwebt den immer prekärer werdenden Alltag der Familie Frank in Amsterdam und jener der Familie Elias in Basel. Diese waren zwar in Sicherheit, aber mit der juden- und fremdenfeindlichen Politik der Schweiz ständig konfroniert.
Shoah, die Skulptur des Künstlers Schang Hutter vor dem Landesmuseum. Als Hutter sie 1998 vor das Bundeshaus gestellt hatte, wurde sie von der Autopartei als «Schrott» abgeräumt.
An der Eingangspforte zum Landesmuseum ist Schang Hutters Eisenplastik Shoah von 1996 aufgestellt. Ein stimmiger Auftakt zur Anne-Frank-Ausstellung.
Bis 6. November
Hier finden Sie Informationen zur Ausstellung und den Führungen
Titelbild: Anne Franks Porträt im düsteren Esszimmer.
Fotos: E.C. (wenn nicht anders vermerkt)
Meine Generation, Jahrgang 1945, wurde bombardiert mit Berichten über diese Zeit. Ich möchte mich nicht mehr so damit befassen. Viel hilfreicher finde ich für mich Berichte und Sendungen über die Nürnberger Prozesse
Wichtig, liebe Frau Bisaz, ist ja nicht nur unsere Generation (habe Jg. 1944), sondern ebenso sehr die nachkommenden Generationen, die sich mit dieser grauenhaften Zeit beschäftigen müssen, auf dass sich derartige Greueltaten nie mehr ereignen. Nebst den Nürnberger Prozessen, ist zudem der Umgang mit ehemaligen Nazis in der BRD und anderen europäischen Landern (leider auch in der Schweiz) von Belang – ein Verhalten, das noch der kritisch-historischen Aufarbeitung bedarf.