StartseiteMagazinKolumnenKeine Götterdämmerung in Russland

Keine Götterdämmerung in Russland

Überrascht vom russischen Angriffskrieg begreifen wir nicht, was dort passiert. Die Geschichte Russlands verlief völlig gegensätzlich zu jener des Westens. Im Westen wehrten sich Kaiser und Könige schon früh dagegen, dass sie der Papst mit seinem Segen ins Amt einsetzte. Deutlich wurde dies in den Reformationskriegen und signifikant, als Napoleon dem Papst die Krone aus der Hand nahm, als er den Kaiser krönen wollte. Er setzte sie sich selber auf. In Russland dagegen herrschte bis zur Revolution 1917 eine Union zwischen Kirche und Staat. Die beiden Institutionen unterstützten sich gegenseitig, das Volk zu kontrollieren. Und Putin setzt mit imperialem Machtgefühl die Tradition der Zaren fort. Er hat Patriarch Kyrill I. an seine Seite geholt.

Im Westen verlief die Geschichte völlig anders. Seit dem Investiturstreit zwischen Papst und Kaiser in den Jahren 1072 bis 1122 bestritten Kaiser und Fürsten das Recht des Papstes, über die Amtseinsetzung zu bestimmen. Es kam zu einem langanhaltenden Machtkampf zwischen den beiden Institutionen. Im Schatten dieses Streites entfaltete sich der freie Geist als dritte Macht. Er äusserte sich sachte im Decamerone von Boccaccio, der die kirchlichen Würdenträger der Heuchelei bezichtigte, oder im Werk von Erasmus, der die Torheit regieren lässt. Ohne den besagten Streit wären diese Bücher wohl kaum geschrieben und veröffentlicht worden. Nicht zuletzt wäre die Reformation von den Habsburgern abgewürgt worden.

Dieser Machtkampf wurde zur «Götterdämmerung». Die Götter, Papst und Kaiser wurden auf die Erde heruntergeholt und mussten vor der Vernunft Rechenschaft ablegen. In Russland fand nie eine solche «Götterdämmerung» statt. Wer von den russischen Intellektuellen in Freiheit leben wollte, flüchtete in den Westen. Die Oligarchen gingen vor der Staatsgewalt in Deckung.

In Europa fand aber noch eine zweite Revolution statt. Sloterdijk nennt sie die «Gesellschaftsdämmerung».  Es handelt sich um die Aufklärung. Sie hat in Russland nicht stattgefunden. Der Staat sorgte dafür, dass machtkritische Gedanken nicht aufkommen konnten. Was dies bedeutet, erleben wir in Putins Krieg gegen die Ukraine. Der Kreml verbot in Eintracht mit dem Patriarchen bei Strafe, den Aggressionskrieg Krieg zu nennen. So ein Verbot lässt sich in einem Riesenland nur durchsetzen, wenn sich das Volk daran gewöhnt hat, sich demjenigen zu unterwerfen, der oben regiert. Gesellschaftsdämmerung bedeutet, dass die Autoritäten nicht mehr das letzte Wort haben. Gegenüber den Autoritäten darf protestiert oder gestreikt werden. In der offenen Gesellschaft des Westens wählt das Volk Behörden ab, denen es misstraut. In Russland zementiert der neue Zar Putin seine Macht durch Zensur.

Dass der Westen in vielen Sprachen spricht, ist unvermeidlich. So ist es auch schwierig, eine einheitliche Front gegen den Angriffskrieg zu bilden. Der Westen, der die Götter- und Gesellschaftsdämmerung hinter sich hat, muss sich zu Kompromissen zusammenraufen und sich abstimmen. Belohnt wird er durch Innovationen.

Es ist zu hoffen, dass die Russen bald eine Götterdämmerung erleben, und sich zur offenen Gesellschaft aufmachen können. Das freie Wort würde sie aufklären, was gerade in der Ukraine geschieht. Vielleicht könnten dann Friedensgespräche stattfinden oder sie würden wahrscheinlich vom Volk erzwungen.

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4 Kommentare

  1. Ich finde Ihr Bild der Götterdämmerung, als Bewusstwerdung des russischen Volkes, überaus gelungen. Ein Sujet für ein Bild in braun-goldenen Farben, so quasi Aufbruch von der Scholle in die aufgehende, Freiheit versprechende Sonne.
    Der Zahn der Zeit wird auch an Russland nagen und der Einfluss der elektronischen Medien wird auch in diesem riesigen Land zunehmen und dafür sorgen, dass immer mehr Menschen begreifen, was wirklich in ihrem Land geschieht und wie sie in Zukunft leben wollen.
    Aber die Verquickung mit dem früheren Zarenreich und der russisch-orthodoxen Kirche als Instrumente der Unterdrückung, ist kompliziert und langlebig, es hat die Menschen über Generationen geprägt.
    Es braucht wohl noch viele Sonnenaufgänge, bis sich in Russland konkret etwas verändern kann und es braucht definitiv die Standhaftigkeit der westlichen Demokratien, entschlossen unsere Werte gegen Angriffe Putins und anderer Despoten mit allen erforderlichen Mitteln zu verteidigen und zu schützen.

  2. Putin inszeniert und signiert seit Kriegsbeginn des öfteren Militärerlasse unter einem riesigen Porträt von Zar Peter dem Grossen mit dem er sich gerne vergleicht und als dessen Erbe und Nachfolger sich Putin sieht. Russland hat die Schrecken des 2. Weltkrieges als Siegermacht und das Schlächterregime Stalins, das mehr Opfer forderte als das Hitler Nazi Regime, nie aufarbeiten müssen! Deutschland hat das unter den Augen der Weltgemeinschaft – s. u.a. Nürnberger Prozesse – akribisch tun und aufarbeiten müssen. Bis heute und wohl noch lange lastet das Erbe des Dritten Reiches auf Deutschland und politisch sind extreme Randparteien von der Teilhabe an Regierungen ausgeschlossen (AfD und Linke weitgehend). Italien hat den Mussolini Faschismus auch nie aufgearbeitet und bald kommen wohl die Neofaschisten unter Frau Meloni an die Macht.

    Es bringt nicht viel, wenn wir mit unseren wohlstandsverwöhnten Augen eines direktdemokratischen Kleinstaates, der sich vorallem mit überkandidelten Luxusproblemen, wie gendergerechter Grammatik und dreierlei Toiletten befasst… meinen totalitäre Regime würden sich so schnell obsolet machen und durch offene multikulturelle Gesellschaftssysteme ersetzen. Viel mehr sollten wir uns primär damit befassen, wie wir unsere Freiheit und Unabhängigkeit bewahren können und was es dafür braucht. Es braucht eine Besinnung auf unsere alten liberalen Erfolgsrezepte , die uns seit 1848 Wohlstand und Freiheit gebracht haben.

  3. Ein sehr interessanter Vergleich, der aber, wie oft ja üblich völlig die wohl schrecklichsten Verbrechen des sog. Westens außer acht lässt? Warum? Ich will gar nucht zurückgehen bis zu den Ausrottungsversuchen der indigenen Völker, der Kolonialsierungen, des Ersten Weltkrieges, des 2. WK, den die damalige Sowjetunion mit 27 Toten » bezahlte», mit einem zu großen Teilen völlig zerstörten Land. Nach 1945 führte der sog. Westen, der putingleich seine Kriege nie als solche bezeichnete, auch » Militäraktionen» durch. 3 Mio Opfer der » Militäraktion» Vietnam, Hunderttausende, manche sagen Millionen, der » Militäraktionen» im Irak, Syrien, Libyien, Afghanistan; Regime-Changes, zerstörte Länder wie auch der Jemen. Millionen infolge dessen auf der Flucht. Wie würde der Autor des Artikels erklären, wodurch sich die völkerrechtswidrige » Militäraktion» des Putin von den Völkerrechtsverbrechen des sog. freiheitlichen Westens, den Brüchen der UN-Charta, unterscheidet? Die Völkerrechtsverbrechen unseres Westens rechtfertigen nicht die des Putin. Aber, ich wüsste nicht, wie ich in einer Diskussion erklären sollte, warum weder die USA, noch die Briten, die Norweger, die auch Libyen bombardierten, all die Verbrechen, die auch in Afghanistan an Zivilisten begangen wurden, oder im Irak, die ethnische Säuberung von Christen, Jesiden, Kurden im Norden Syriens in Den Haag vor Gericht gestellt wurden/ werden, aber dieser Putin. Sie gehören alle dorthin, mit Putin.

  4. Eine Betrachtung die historisch gesehen absolut richtig ist. Aber die Gesellschaftsdämmerung wird verklärt dargestellt. Diese Gesellschaftsdämmerung ermöglichte das Entstehen von Demokratien. Wie kommt es aber, dass in der heutigen Zeit in Europa in einigen demokratischen Ländern diese selbstbestimmt (demokratisch gewählte populistische Parteien) schrittweise zurückgenommen wird? Beispiel Ungarn und potentielle Kandidaten wie Frankreich, Italien, USA Serbien etc. Warum werden die Werte dieser Aufklärung bei vielen Bürgern nicht mehr geschätzt? Man besitzt sie ohne etwas dafür tun zu müssen? Wer kennt die Charta von Europa? oder die Verfassung der Schweiz im Wortlaut? Warum wird diese nicht ab und zu verkündet, interpretiert und propagiert? Die Kommentare zu politischen Eereignissen in sog. sozialen Medien gibt uns einen Einblick in den Grad der Aufklärung in der breiten Bevölkerung. Selbst etablierte Politiker machen bei Fake News mit. Ich hoffe die Gesellschaftsdämmerung erfasst auch die grosse Mehrheit der Bevölkerungen zumindest in den demokratisch regierten europäischen Ländern.

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