StartseiteMagazinKulturNiki und die starken Frauen

Niki und die starken Frauen

Das Kunsthaus Zürich zeigt das Schaffen von Niki de Saint Phalle in einer Retrospektive mit rund 100 Werken: frühe Assemblagen, Aktionskunst und Grafik, die Nanas, den Tarotgarten sowie grosse späte Plastiken.

Niki de Saint Phalle (1930-2002) ist weltweit bekannt geworden durch ihre «Nanas», die eine unbekümmerte Fröhlichkeit ausstrahlen; ihr Schaffen ist aber weit mehr. Die Ausstellung gibt Einblick in ihr facettenreiches Werk, das bunt, humorvoll, auch exzentrisch, düster, brutal, hintergründig und immer wieder herausfordernd erscheint. Mit dieser Abschiedsausstellung, die Christoph Becker für das Kunsthaus kuratiert, beschert er dem Publikum ein grosses Sehvergnügen und zeigt die Künstlerin in unterschiedlichen Ausdrucksformen.

I Am the Nana Dream House, 1969, Druck auf Papier, Musée d’art et d’histoire Fribourg. © 2022 ProLitteris.

Catherine Marie-Agnès Fal de Saint Phalle ist Tochter einer Amerikanerin und eines gut situierten französischen Aristokraten, der nach der Weltwirtschaftskrise sein Vermögen verlor. Als die Familie nach New York übersiedelt, nennt sie sich «Niki». In ihren 1994 veröffentlichten Memoiren offenbart sie, dass sie in den 1940er-Jahren von ihrem Vater sexuell missbraucht wurde. Ein lebenslanges Trauma, das sich in ihrem Werk niederschlägt.

Joue avec moi, 1955, Öl auf Leinwand, Kunstmuseum St. Gallen. Foto: Sebastian Stadler, © 2022 ProLitteris, Zürich

In Paris lernt sie nach dem Krieg zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler kennen, arbeitet als Fotomodell für Modezeitschriften und heiratet 1948 ihren Jugendfreund Harry Mathews. Ihr Leben spielt sich zwischen den Vereinigten Staaten, Frankreich, Italien und der Schweiz ab. 1956 stellt sie erstmals ihre Bilder aus. In St. Gallen.

King-Kong, 1962, Relief, Schiessbild, Mischtechnik, 276 x 611 x 47cm. Moderna Museet, Stockholm. Foto: rv

Nach ihrer schwierigen Kindheit ist Kunst für Niki de Saint Phalle nicht nur Therapie, sondern auch Antrieb und Ventil für ihre kreative Persönlichkeit. Nach der Trennung von ihrem Mann und ihren beiden Kindern, die beim Vater bleiben, beginnt für sie 1961 eine neue Phase. Als einzige Frau wird sie in Paris Teil der Gruppe Nouveaux Réalistes, zu der neben Yves Klein oder Jackson Pollock auch Jean Tinguely gehören.

Links: Niki de Saint Phalle bei der 800-Jahr-Feier von Notre-Dame in Paris mit einer Schiessaktion, 1963. Foto: rv aus der Ausstellung. Rechts: Shooting-Painting, 1964, Sammlung Museum Haus Konstruktiv. © 2022 ProLitteris, Zürich

Durch die künstlerische Nähe zu Jean Tinguely beginnt sie, das Publikum in den Entstehungsprozess ihrer Werke einzubeziehen: Sie lässt Besucherinnen und Besucher Dartpfeile auf eine ihrer Arbeiten schleudern. Eine Art Machtdemonstration gegenüber ihrem eigenen Werk. Diese Aktion führt zur Phase der Schiessbilder: Sie schiesst auf in Gips eingearbeitete Farbbeutel in ihren Reliefs, so dass die Farbe durch das Einschussloch nach unten tropft und die Oberfläche färbt. Dabei verändert das Relief seinen Charakter. Sie lässt auch andere Menschen schiessen und gibt so die alleinige Kontrolle über ihr Werk ab.

L’accouchement rose, 1964, Relief, Moderna Museet, Stockholm. © 2022 ProLitteris, Zürich

Die Auseinandersetzung mit dem weiblichen Körper begleitet die Künstlerin durch ihr ganzes Leben. In L’accouchement rose ist der Frauenkörper mit Figuren, Masken, Kindern, Tieren, Pflanzen, Wurzeln, auch mit Flugzeugen dekorativ belegt, ein kleines Kind ragt aus der Vagina. Das Relief in Mischtechnik ist zart rosa eingefärbt.

Im Oktober 1965 werden in Paris erstmals ihre stilisierten Frauenplastiken ausgestellt. Es sind die fröhlichen, bunten, meist tanzenden, oft überlebensgrossen, dicken «Nanas», die sich durch ihr weiteres Schaffen durchziehen. Sie stehen für Lebenskraft, Weiblichkeit, freie Gestaltung ohne Hemmungen und Konventionen. «Nana» ist ein vieldeutiger Begriff aus dem Französischen für eine moderne, selbstbewusste, erotische und verruchte Frau. Mit dem Ausspruch «Alle Macht den Nanas!» greift sie den Ideen der Frauenbewegung vor.

Besucher beim Betreten von «Hon – en katedral» im Moderna Museet, Stockholm 1966. Foto: rv aus der Ausstellung

Die grösste und berühmteste Nana realisierte Niki zusammen mit Jean Tinguely 1966 im Stockholmer Moderna Museet. «Sie – eine Kathedrale» nannte sie die 29 Meter lange und sechs Tonnen schwere liegende begehbare Plastik eines bunten Frauenkörpers. Die mehr als 100’000 Besucherinnen und Besucher gelangten durch die Vagina in das Innere der, so die Künstlerin, «grössten Hure der Welt». Im Inneren gab es ein Kino, eine Liebesnische im Bein, eine Milchbar in der Brust und eine mechanische Gebärmutter im Bauch; wohl Nikis ironischer Kommentar zum tradierten Idealbild der Frau. Die Zürcher Ausstellung zeigt Fotodokumente sowie ein kleineres Modell der Figur, denn das monumentale Werk wurde nach der Ausstellung zerstört.

La Toilette, 1978, Papiermaschee, bemalt. Collection MAMAC, Nice. Foto: rv

Die frühen Plastiken baut Niki aus Papiermaschee über einem Drahtgeflecht und bemalt diese. Erst später giesst sie die «Nanas» in Polyester, deren giftigen Dämpfe schliesslich bei ihr zu grossen gesundheitlichen Problemen führen. In «La Toilette» schminkt sich eine Frau im roten mit Herzen verzierten Kleid und mit Lockenwicklern im Haar vor dem Spiegel. Auf der Ablage finden sich diverse Schminkutensilien, die noch aus dem Fundus ihrer Mutter stammen. Niki hatte ein gespanntes Verhältnis zu ihrer Mutter. Als die Mutter, eine schlanke, schicke Frau, sie einmal fragte, ob sie damit gemeint sei, konnte Niki ihr nicht die Wahrheit sagen.

Blick in die Ausstellung. Foto: rv

Die Nanas sind Niki de Saint Phalles eigentliches Markenzeichen. Wer kennt nicht den grossen Engel am Hauptbahnhof Zürich, der die Reisenden beschützt. Die Nanas sind weit über die Kunstszene hinaus in die Alltagskultur eingegangen, wenngleich sie nicht dem heutigen Schönheitsideal entsprechen. Nikis kreative Auseinandersetzung mit dem Weiblichen hat eine spielerische Note, die auch von nicht kunstaffinen Menschen verstanden wird. Heute kann man Nanas in Boutiquen und Warenhäusern kaufen und im Internet findet man Bastelanleitungen für die Herstellung von Nanas.

Leonardo Bezzola, Niki de Saint Phalle, Luzern 1969, Kunsthaus Zürich. © ProLitteris

Niki de Saint Phalle wählte bewusst den Weg der Kommerzialisierung, um ihre grossen und teuren Projekte wie den Tarotgarten in der Toskana selbst zu finanzieren. Sie wollte als Künstlerin stets unabhängig bleiben und brauchte so keine Mäzene.

Niki war in ihrer kreativen Auffassung grosszügig. Wie bereits erwähnt, durften Menschen auf ihre Schiessbilder einwirken, und die Nanas gab sie zur Reproduktion frei. Aber auch als Künstlerin war sie freigebig, zahlreiche Museen beschenkte sie mit ihren und Tinguelys Werken. Ihre Offenheit führte in der Kunstwelt zu Diskussionen, inwieweit «hohe Kunst» und «Alltagskultur» sich vermischen dürfen. Sie hat sich wohl auf beiden Seiten durchgesetzt. Auch die Zürcher Ausstellung wird bestimmt zum Publikumserfolg.

Titelbild: Tea Party ou Le Thé chez Angelina, 1971, Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, © 2022 ProLitteris, Zürich

Bilder: Vom Kunsthaus Zürich zur Verfügung gestellt und rv.

Bis 8. Januar 2023
«Niki de Saint Phalle», Kunsthaus Zürich (im Moserbau)
Ausstellungskatalog CHF 48.00

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1 Kommentar

  1. Danke für Ihren ausführlichen Bericht über diese wichtige Ausstellung. Wie auch Meret Oppenheim mit ihrer Schöpfung der Pelztasse, wird auch Niki de Saint Phalle oft nur auf ihre Nanas reduziert. Umso wichtiger, dass Künstlerinnen, Musikerinnen, Forscherinnen, Autorinnen aus allen Epochen heute sichtbar und erkennbar gemacht werden. Lange genug waren nur die Leistungen der Männer Gegenstand von Anerkennung und Würdigung.

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