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Vom Denken, Spüren und Handeln

Anna der Indianer hat den Vater gefunden. Wer seinen Vater findet, ist fähig, auch Vater zu sein, wenn man ihn braucht. Er braucht dazu nicht Vater zu werden. Eine Buchbesprechung (Buchvernissage heute Sonntag, Details s.u.).

 

Der kürzlich im Verlag Schöffling erschienene zweite Roman von Livia Anne Richard, Anna der Vater sollte trotz des entsprechenden Anklangs nicht als Fortsetzung ihres ersten Werks, Anna der Indianer verstanden werden Er präsentiert sich eigenständig, ohne seine erzählerischen Wurzeln im ersten Teil zu verleugnen. Hauptthema des Romans ist das enge freundschaftliche Verhältnis von Nora, Tochter der Gastfamilie in San Francisco, zu ihrer Schweizer Gastschwester Anna. Das offenbart sich als Höhepunkt in der Überzeugung der neunzehnjährigen Anna, als Vater der Kinder der schwangeren achtzehnjährigen Nora Verantwortung übernehmen zu wollen.

Nora und Anna

Eindrücklich ist dabei, dass man hier «wollen» auch mit «müssen» ersetzen könnte, und das macht das Indianerhafte von Anna aus: Gradstehen, wofür man sich verantwortlich fühlt, zu verwirklichen, woran man glaubt, aufrecht zu stehen, sich nicht aufrichten lassen müssen.

Eindrücklich ist dabei die subtile Unterscheidung zwischen kognitiv-pragmatischer Vernunft (Nora) und intuitivem Gespür (Anna) auf dem Weg zu legitimer Selbstverwirklichung und zu wichtigen Entscheiden. Die Autorin verficht in ihren Dialogen und Erzählungen immer wieder, dass sich kognitive Denkarbeit einerseits, Intuition und Gefühl andererseits in einer Persönlichkeit zusammenwirkend vereinigen sollen, damit in einem Leben gute Entscheide und Rollenverteilungen gefunden werden.

Formales Merkmal der Belletristik der Gegenwart sind ja allgemein die eingebauten filmartigen Zeitsprünge, eine Art Vor- und Rückblendungen von der Gegenwart in die Zukunft und vereinzelt auch in die Vergangenheit. Livia Anne Richard setzt diesen formalen Aspekt geschickt als Spannungsanregung und -effekt ein, ganz ihrem dramatischen Können entsprechend. Es gelingt ihr überzeugend, mit ihren zeitlichen Vor- und Rückblenden eine Art zweite Erzählebene entstehen zu lassen, die gedanklich, eher intuitiv und rein strukturell wirkt und sich vergleichen lässt mit einem sozusagen im Unbewussten (oder auch Unterbewusstsein) räumlichen Mitschwingen neben dem realen Geschehen.

‍‍Konkret nehmen wir Anteil am Leben und am Umfeld der jungen Wahlschwestern – Familienleben, Schule, Freizeit, Freunde, erste erotische Begegnungen – , dem Verhältnis zu ihren Müttern und zu ihren leiblichen und angeblichen Vätern, zum Familienleben mit seinen Hochs und Tiefs im Ganzen. Zum Verständnis tragen Reminiszenzen aus früheren Zeiten bei. Paralleler Haupt-Erzählstrang sind die Erlebnisse und Vorgänge der Zukunft, die beiden Wahlschwestern sind in den Fünfzigern, Noras Kinder in den Dreissigern.

Dazwischen liegen die Erzählungen und Berichte vom Leben dieser Familie, die nicht gängigen Normen entspricht: Nora, die Mutter, Anna, der Vater, die Zwillinge Nala und Alan. Alle Beteiligten, Fremde wie Nahestehende, haben sich mit der für geläufige Meinungen seltsamen Erscheinung mindestens zu einem grossen Teil arrangiert, und wo das nicht geschieht, erwacht in Anna der kämpferisch rächende Indianer.

Livia Anne Richard. Bild © Hannes Zaugg-Graf ‍‍

Livia Anne Richard ist als Gründerin, Autorin, Regisseurin von Theater Gurten und Theater Matte in Bern und weit über Bern hinaus bestens bekannt. 2020 ist auch ihr erster Roman erschienen, Anna der Indianer, und auf Seniorweb gewürdigt worden.

Eine starke Autorin…

Darf man in solchem Zusammenhang noch über Indianer schreiben? Angesichts der herrschenden Diskussion über kulturelle Aneignung und ähnliche moderne Problematik, die zum Teil weit hergeholt wirkt und damit die eigentlichen, echten Bedrohungen unserer Natur, unserer Kultur und unseres Überlebens mit hohlklingender Souveränität übersieht? – Dass Livia Anne Richard mitten im modernen gesellschaftlichen Leben steht und die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um neue Aspekte des menschlichen Lebens ohne jede kämpferische Aufgeregtheit durchaus einbezieht, erscheint als eine der grundlegenden Stärken ihres Romans. Anna als Indianer zum Beispiel verkörpert nicht das Bild des literarisch idealisierten «edlen Wilden»; vielmehr kann man sich an die so um die Fünfzigerjahre original in den USA und auch auf Deutsch erschienenen Biografien bekannter Indianerhäuptlinge erinnern. Wie dort geht es auch hier in Anna der Vater eher um selbstverständliche Wertschätzung und um rassismusfreie Anerkennung amerikanischer Ureinwohner. Und auch um das Aufbrechen der binären Geschlechtszuordnung.

…und ein starkes Buch

Das Buch liest sich nicht zuletzt mit so grossem Interesse, so gespannter Anteilnahme, weil die Autorin mit dem ganzen Geschehen eine grosse Menge sublimer Motive, aphoristischer Gedanken, farbig geschilderter Einzelereignisse und dramatischer Höhepunkte verwebt und überzeugend versteht, Spannungen aufzubauen und damit weitere Erwartungen zu wecken. Kleine Perlen sind die hin und wieder die Handlung ergänzenden und ausschmückenden erzählten Geschichten.

Eine Poesie besonderer Art ist der Epilog nach den fünfzig zum Teil äusserst kurzen Kapiteln – Poesie, die man immer und immer wieder lesen möchte, gerade weil sie die schwierig zu verstehenden gesellschaftlich-geistigen Umbrüche unserer Zeit in eine Art beruhigende Allgemeingültigkeit zu verwandeln scheint.

Titelbild: Ausschnitt aus dem Buchcover
Buchvernissage: Heute Sonntag, 25. September, 17 Uhr mit Livia Anne Richard und Wale Liniger (musikalische Begleitung). Ort: Theater an der Effingerstrasse, Bern

Livia Anne Richard: Anna der Vater. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2022. 320 Seiten, ISBN 978-3-89561-143-8
Anna der Indianer auf Seniorweb 2020

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