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In Chiles neue Revolution eintauchen

Der 1941 geborene Filmemacher Patricio Guzmán beschreibt in «Mi país imaginario» die vor allem von Frauen getragene Revolution von 2019 und stellt sie in den historischen Zusammenhang: mit Leidenschaft und klugem Kopf. Ab 2. Oktober im Kino.

Im Mai 2019 präsentierte Patricio Guzmán mit «La cordillera de los suenos» den dritten Teil seiner Chile-Trilogie am Filmfestival in Cannes und erhielt dafür die Auszeichnung für den Besten Dokumentarfilm. Mit Blick auf das unverrückbare Steinmassiv, das sein Land durchzieht und begrenzt, suchte er damals Antworten auf die Fragen, die ihn umtreiben, seitdem er vor fünfzig Jahren den Fängen von Pinochets Militärdiktatur entflohen war. Die Kordillere ist mit ihrer Kraft und ihrem Charakter die Metapher seines Traums von Chile. Als er in Cannes auf dem roten Teppich die Stufen zum Festivalpalast hoch schritt, hatte er keine Ahnung, dass die Steine der Kordillere wenige Monate später Zeugen und Protagonisten des Wandels in seinem Land werden würden und sein Traum von Chile ein bisschen näher rücken würde.

Als am 18. Oktober 2019, nachdem der Metro-Fahrpreis in Santiago de Chile um 30 Peso erhöht wurde, ergoss sich eine Welle der Empörung über die Hauptstadt. Metrostationen wurden gestürmt, Läden geplündert, eine U-Bahn ging in Flammen auf. Es entfachte sich eine unbändige Wut gegen die Regierung und das politische System. Rufe nach fundamentalen Veränderungen wurden laut, das neoliberale System und die in der Militärjunta verabschiedete Verfassung haben ausgedient. Die Bewegung übertrug sich auf unüberschaubare Scharen von Bürgerinnen und Bürgern.

Für Guzmán war dies ein Schock. Er, der so viele Jahrzehnte schon die Missstände in seinem Land beschrieb, sich mit dokumentarischen Essays darüber einen Namen machte und dabei an den Demokraten und Sozialisten Salvador Allende erinnerte, hatte nicht mit dieser Form des kollektiven Aufbruchs in seiner Heimat gerechnet. Berühmt war der Filmemacher durch seine Parabeln über Chile. Den Hintergrund seiner Werke bildete stets die Aufarbeitung des persönlichen Traumas und dasjenige von mehr als einer Generation.

«Kameras spielen bei dieser Revolte eine wesentliche Rolle. Sie konnten uns nicht unterdrücken, töten oder foltern, weil zehn Kameras filmten, was sie taten. Das ist auch der Grund, warum wir zur Zielscheibe wurden», meint die Fotografin Nicole Kramm dazu.

In «Nostalgia de la luz» von 2010 beobachtete Guzmán Astronomen in der Atacama-Wüste, die im Weltall in die Vergangenheit blicken, während um die Sternwarte herum Frauen nach den sterblichen Überresten ihrer Männer und Söhne suchen, die während der Diktatur hier im Wüstensand verscharrt wurden. In «El boton de nacar» nimmt er uns 2015 mit in den Ozean, aus diesem heraus und zurück in die Geschichte Patagoniens. Im letzten Teil seiner Trilogie über seine Heimat führt er uns zur Andenkette, der Kordillere seiner Träume.

Sein neuer Film «Mi país imaginario» bietet gleichermassen eine Reise durch die Geschichte und durch die Landschaften Chiles. Mit den Steinen dieser Kordillere – Guzman nennt sie seine alten Freunde – beginnt und endet auch sein jüngstes Werk. Hier sind sie Waffen und Musikinstrumente, die sich zum Klang der Empörung des Volkes zu einer Symphonie des Protests verwandeln. Dieser Film ist angesiedelt zwischen Reportage und Reflexion, ist nicht mehr Nostalgie, sondern Aufbruch und Hoffnung.


Ein Volk demonstriert und rebelliert

Patricio Guzmán zu «Mi País imaginario»

Mein Film «La cordillera de los suenos» endet mit einer Sequenz, in der ich erzähle, dass meine Mutter mir beigebracht hatte, dass ich mir beim Anblick einer Sternschnuppe am Himmel innerlich etwas wünschen könne und dieser Wunsch in Erfüllung gehen würde. In der Schlusssequenz sage ich, dass es mein Wunsch ist, dass Chile seine Kindheit und seine Freude wiederfindet.

Im Oktober 2019, als der Film gerade in Frankreich in die Kinos kam, passierte in Chile etwas, was für mich völlig unerwartet kam: eine Revolution, ein sozialer Aufstand. Anderthalb Millionen Menschen demonstrierten für mehr Demokratie, für ein würdigeres Leben, bessere Bildung und ein besseres Gesundheitssystem für alle. Chile hatte sein Gedächtnis wiedergefunden.

Seit Salvador Allende hatte ich so etwas nie mehr erlebt. Wie zu Zeiten der Unidad Popular hörte ich die Lieder von Víctor Jara und Los Prisioneros und vielen anderen. Sie wurden nun von einer neuen Generation gesungen. Ich merkte, dass die Erinnerungen perfekt weitergegeben wurden und sehr lebendig waren.

Tausende Bürgerinnen und Bürger marschierten, schrien und besprühten die Wände. Es waren ganz normale Menschen. Viele Eltern von anwesenden Schülern, Rentnerinnen, ehemalige Beamte oder auch Angestellte und anonyme Menschen. Es gab keine Anführerin, keinen Anführer, und es gibt sie immer noch nicht. Man konnte keine bekannten Personen erkennen. Die Menschen marschierten durch die Strassen und stellten sich der Polizei und ihren Wasserwerfern entgegen. Zahlreiche verloren ein Auge, es gab Tausende Verletzte und zweiunddreissig Tote. Aber wie war es möglich, dass ein ganzes Volk siebenundvierzig Jahre nach Pinochets Putsch in einem sogenannt sozialen Aufstand erwachte, einer richtiggehenden Rebellion, einer Revolution? Für mich war es ein Rätsel. Also ging ich diesem Geheimnis nach und filmte, wie sich dies alles auf die Stimmung, die Luft, die Emotionen und Gefühle der Menschen in meinem Land auswirkte.

Fünfzig Jahre nachdem ich 1979 «La batalla de Chile» gedreht hatte, war ich wieder auf der Strasse, um das Geschehen festzuhalten. Ich war dabei, als das chilenische Volk über eine neue Verfassung abstimmte und die 80-prozentige Mehrheit eine verfassungsgebende Versammlung verlangte. Ich war dabei, als ein neuer 35-jähriger linksgerichteter Präsident, Gabriel Boric, mit 56 Prozent der Stimmen gewählt wurde. Das hatte es in der Geschichte des Landes, meines imaginären Landes, noch nie gegeben.


Ein Vergewaltiger-Text als Revolution-Symbol

Wenn Frauen anpacken

Das Gedicht «El Violador eres tu! Der Vergewaltiger bist du», welches das Colectivo Las Tesis, ein feministisches Theaterkollektiv, erfand, wurde von der die Bevölkerung begeistert aufgenommen und als ihr Kampflied weitergetragen. Diese mehrheitlich jungen Frauen hat, was der alte Guzman ehrlich, überzeugt und begeistert zeigt, das Feuer der Revolution gepackt. Sie dominieren mit solcher Überzeugung, dass sie eigentlich für alle irgendwo auf der Erde laufenden Frauendemonstrationen als Vorbild dienen könnten. «Diese Bewegung wird das Gesicht und die Stimme der Frauen haben. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Die Frauen sind in Rage. Und sie haben Recht», meint die Journalistin Mónica Gonzàles.

Wichtig an diesem Gedicht ist, dass darin das Wort Vergewaltigung in einem umfassenden, radikalen Sinn, nicht bloss auf den sexuellen Übergriff beschränkt, zu verstehen ist. Das chilenische Theaterkollektiv erweitert und vertieft den Begriff ins Politische, Historische, Philosophische. Darüber nachzudenken, könnte sich wohl auch bei uns lohnen.

«Diese Revolte kommt von der Basis, sie hat keine Anführer, keine Einzelpersonen, die sie auf ein bestimmtes Ziel hinführen könnten. Das macht es so kompliziert, mit den Behörden zu verhandeln. Und das ist auch gut so, denn wir wollen mit niemandem verhandeln. Wir wollen einfach nur die Dinge ändern», meint Sibila Sotomayor vom Colectivo as Tesis, den Müttern dieses Textes:

Das Patriarchat ist ein Richter,
der uns bei unserer Geburt verurteilt.
Und unsere Strafe ist die Gewalt,
die du nicht siehst.
Das Patriarchat ist ein Richter,
der uns bei unserer Geburt verurteilt.
Und unsere Strafe ist die Gewalt,
die du bereits siehst:
Die Strafe ist der Femizid,
die Straffreiheit für meinen Mörder,
sie ist das Verschwinden,
sie ist die Vergewaltigung.
Und schuld war weder ich, noch wo ich war
oder wie ich angezogen war!
Der Vergewaltiger warst du!
Es sind die Bullen,
die Richter,
der Staat,
der Präsident!
Der Unterdrückerstaat ist
ein vergewaltigender Mann!
Der Vergewaltiger bist du!

Mutige hochprofessionelle Revolutionärin

Regie: Patricio Guzmán, Produktion: 2022, Länge: 82 min, Verleih: trigon-film


In eigener Sache

Am 6. Oktober findet an der ZHAW, Abteilung Angewandte Gerontologie, in Winterthur eine Veranstaltung mit dem Titel «Das Alter im Film» statt, die ich leiten darf. Mehr dazu auf diesem Flyer. Es würde mich freuen, die eine oder den andern von Ihnen, von euch dort begrüssen zu dürfen.

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