Ausstellungen mit Werken von Künstlerinnen sind praktisch Pflichtprogramm, wenn man sich die aktuelle Liste der Galerien und Museen anschaut. Das Bündner Kunstmuseum stellt «Kunst und Stickerei» aus.
Aus dem Nachlass von Tante Christiane gelangte ein Koffer voller Bündner Kreuzstickereien zu uns. Darunter ein Wandbehang gross wie eine Tischdecke, der nun über einer Hochzeitstruhe aus dem 19. Jahrhundert hängt. Den grünen Koffer öffne ich von Zeit zu Zeit und betrachte die Werke, um sie wieder einmal zu sehen, so wie ein Kunstsammler seine Grafiken aus der Mappe nimmt. Mein liebstes Stück ist eine feine Kreuzsticharbeit mit dem ganzen Paradies.
Saalansicht «Venedigsche Sterne» mit Stickereien von Johanna Natalie Wintsch aus den Jahren 1922-1924 (Wand links), von Louise Bourgeois, Polar Star, 2008 (hinten Mitte) und Untitled, 1996 (rechte Seite), sowie historischen Stickereien aus dem Rätischen Museum.
Die Ausstellung Venedigsche Sterne – Kunst und Stickerei befragt den Zusammenhang zwischen Volkskunst und Gegenwartskunst, Stickereitradition der Bündner Heimat und textilen Arbeiten aus fernen Kulturen. Den Titel haben die Kuratoren – Museumsdirektor Stephan Kunz und Susann Wintsch, Spezialistin für Gegenwartskunst des Vorderen Orients – aus einem alten Handbuch entlehnt: Christian Egenolffs Modelbuoch/Aller art Nehwens vnd Stickens, 1564. Darin die neuesten Vorlagen, unter anderem, was Venedigsche Stern sind.
In Vitrinen liegen die Stickereien aus dem Museum: Mustertücher mit traditionellen Motiven in Kreuzstich oder Paradehandtücher meist mit rotem Garn bestickt, weisse Spitze für eine Tischdecke oder eine Taufdecke, edle Vorstecker von Trachten mit Ranken und Blumen in Flach- oder Plattstickerei auf Seidensamt. Die traditionelle Stickerei bezeugt nicht unbedingt den Schöpfergeist der Bündner Stickerinnen, beliebte Motive sind mit Vorlagen und Musterbüchern eingewandert: Beispielsweise der Granatapfel, die Nelke oder exotische Tiere, die es in den Alpen gar nicht gab.
Sticken für Freiheit und Menschenrechte auf tausend Passfotos. Latifa Zafar Attaii: One Thousand Individuals, 2021/2022.
Noch Anfang des 20. Jahrhunderts war Frauen der Zugang zu Kunstakademien verwehrt. Die Ausbildung in textilem Kunsthandwerk war möglich. Künstlerinnen der Avantgarde setzten ihre Ideen am Webstuhl und am Stickrahmen um, arbeiteten mit Nadel und Garn statt mit Pinsel und Farben. Künstler der klassischen Moderne wie Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938) entwarfen Bilder, deren Ausführung überliess Kirchner unter anderen der Textilkünstlerin Lise Gujer. Wie er vorgegangen ist, lässt sich anhand von Skizzen mit Farb- und Fadenmustern nachvollziehen.
Alice Bailly: Genève dans la Nuit. Wollstickerei auf Leinwand um 1918
Alice Bailly (1872-1938) «malte» kubistische Bilder mit weichwolliger Oberfläche. Wie Pinselstriche setzte sie die Wollfäden in den Tableaux-laine auf die Leinwand. Von Sophie Taeuber-Arp (1889-1943) sind Entwürfe auf Papier und gleich daneben das gestickte Bild zu sehen. Die abstrahierten Kompositionen – menschliche Figuren, Vögel – setzte sie aus geometrischen Formen zusammen. Als grosses Vorbild hat sie zeitgenössische Künstlerinnen angeregt: Isa Melsheimer (*1968) nimmt explizit die Komposition eines Werks auf, setzt die Konturen mit Nägeln an die Wand und spannt sie mit weissen Fäden in die dritte Dimension, es ist die Fortführung der zweidimensionalen Arbeit von Taeuber-Arp in die Zukunft.
Jean-Frédéric Schnyder (*1945 in Basel): Broderie. 1973-1981. Wie ein fliegender Teppich liegt diese fantastisch-psychedelische Welt im Raum.
Auch im Museum entstanden: Gözde İlkin (*1981 in Kütahya, Türkei) hat handbestickte Aussteuer-Bettwäsche ihrer Mutter mit Applikationen und Stickerei von Szenen aus der Familiengeschichte und traditionellen Bündner Motiven zu einem Triptychon verarbeitet. Nachdenken über die Heimatidee, über Geborgenheit und Fremde ergreift die Betrachter.
Was wäre eine Ausstellung textiler Kunst ohne den Mythos der Ariadne. Implizit ist der rote Faden, dank dem Gewalt und Schrecken abgewendet werden, schon bei der traditionellen Stickerei vorhanden: die Arbeit fordert Konzentration und erlaubt zugleich Meditation und damit eine Auszeit vom Alltagskram. Elaine Reicheck (*1943 in New York) setzt sich mit dem Minotauros-Monster auseinander, seit sie 2014 den Minoan Family Tree, den Lebensbaum nach der Darstellung von Gustav Klimt stickend umgesetzt hat. Indem sie die in der Männer-Kunst als schwaches Objekt dargestellte Ariadne stickend aufnimmt, gibt sie ihr Autonomie zurück.
Saalansicht mit Seiten aus dem Textilbuch von Louise Bourgeois: Ode à l’Oubli, 2004.
Mit zahlreichen Arbeiten ist Louise Bourgeois (1911-2010) vertreten. Mit textilen Techniken kam die Künstlerin schon früh in Berührung, ihre Mutter restaurierte Tapisserien am Wirkstuhl. Die Maman – materialisiert in der Spinne – war ihre Beschützerin vor dem Trauma, dessen Urheber der Vater war. Ihre Arbeiten auf Stoff kreisen um Erinnern und Vergessen. Das Textilbuch Ode à l’oubli von 2004, an einer Wand einzeln ausgehängt zeigt die Vielfalt von Bourgeois› Arbeiten.
Wörtlich genommen hat Eliza Bennett (*1980 in London) die Handstickerei: Auf Fotos und einem Video bestickt sie mit der einen Hand die andere – nur schon die Fotos von A Woman’s Work is Never Done anzuschauen, tut weh und verweist auf den gesellschaftskritischen Gehalt.
Eliza Bennett: A Woman’s Work is Never Done (die Arbeit der Frau ist nie fertig). Fotografie im Besitz der Künstlerin.
Unangenehm zu betrachten ist auch die Fotoarbeit von Annegret Soltau (*1946 in Hamburg): Sie hat sich im Gesicht und am Hals Einschnürungen zugefügt und sich danach fotografiert, Darstellungen der Fremdbestimmung der Frauen. Sadismus und Schönheit ist das aufrüttelnde Ergebnis. Sozialkritik und einen erhellenden Einblick in eine kaum bekannte Gedankenwelt hat Véronique Arnold (*1973 in Strassburg) in ihrem Werk verarbeitet. Sie stickt mit der Nähmaschine Sätze und Skizzen auf Stoffe, die sie in Gesprächen mit Textilarbeiterinnen gesammelt hat.
Eine Fleissarbeit mit Konzept hat der Textilkünstler Alighiero Boetti (1940-1994) dank seiner Frau und vielen Stickerinnen in Afghanistan geschaffen: I mille fiumi più lunghi del mondo. Sechs Jahre dauerten die Recherchen und das Sticken der Flussnamen, geordnet nach der Länge. In Chur sind zudem Arbeiten aus der Serie Ordine e disordine ausgestellt: Bunte Stickereien, schön und schwierig zu entschlüsseln.
Rozita Sharafjahan: Ohne Titel. 2016. Aus der Serie Taraneh (Aziza Brahim)
Eine Konzeptarbeit ist Latifa Zahar Attaiis (*1994 Ghazni, Afghanistan) Werk One Thousend Individuals, die sie den Hazara widmet, einer Minderheit, der sie angehört. Sie hat auf tausend Passbildern, die sie von den Besitzern bekam, die Gesichter eigenhändig mit Plattstichen überstickt – Frauen und Männer: Mahnung an die Aberkennung der Menschenrechte. Die nun gleichförmig zugestickten Gesichter sind auch Statement gegen die patriarchale Gesellschaft.
Um das Schweigegebot geht es der Perserin Rozita Sharafjahan (*1962 in Teheran). Sie druckte Porträts von Sängerinnen aus islamischen Ländern auf Stoff und bestickte sie dann. Ein Manifest gegen das Verbot des weiblichen Sologesangs und zugleich eine Hommage an die Sängerinnen.
Was bedeutet es, sich mit Nadelarbeiten stunden- oder auch tagelang zu verweilen? Die Zeitdimension des Stickens fordert Ruhe und Konzentration. Zugleich können die Gedanken sich frei entfalten, so wird innere Freiheit möglich dank dieser Beschäftigung, die den Frauen auch in traditionellem Umfeld zugestanden wurde. Sticken ist emanzipatorisch und in der zeitgenössischen Kunst auch hochpolitisch: Eine feministische Ausstellung, in der es um das Durchbrechen des weiblichen Schweigegebots und um das Erlangen von Freiheit und Rechten geht, unter Einschluss von Männern, die stickten oder sticken liessen.
Bis 20. November
Titelbild: Gözde İlkin: Every Current Filling a Void Moves Stones (Jede aufgefüllte Leere versetzt Steine), 2022.
Fotos: Bündner Kunstmuseum und Eva Caflisch (die Rechte an den Kunstwerken liegen bei den Künstlerinnen und Künstlern und deren Rechtsnachfolgern).
Informationen gibt es hier.
Der Katalog «Venedigsche Sterne. Kunst und Stickerei» wurde herausgegeben von Stephan Kznz und Susann Wintsch und ist im Verlag Scheidegger & Spiess erschienen.
ISBN 978-3-03942-124-4
Eine parallele Arbeit von Latifa Zahar Attaii ist zurzeit im Kunstmuseum Thun zu sehen. Seniorweb hat die Gruppenausstellung «The other Kabul» besprochen.