Hannah Steffen ist seit September Leiterin des Zürcher Theaters Winkelwiese. Erstmals wieder eine Frau, nachdem das Avantgarde-Theater 1964 von Maria von Ostfelden gegründet wurde.
Seniorweb: War Theater immer Ihr Traumberuf?
Hannah Steffen: Ich bin in Heilbronn am Neckar geboren und wollte möglichst bald weit weg. So studierte ich in Kiel Literatur, Philosophie und Soziologie, zum Theater hatte ich zunächst keinen Bezug, auch nicht durch meine Eltern. Im Studententheater empfahl mir dann eine Dozentin, Regie zu studieren; ich wusste nicht einmal, dass dies möglich ist. Da ich ein Bewegungsmensch bin, der gerne Ideen praktisch umsetzt, kam mir das entgegen. 1998 bekam ich einen Studienplatz an der damaligen Schauspielakademie in Zürich (heute ZHdK) im Studiengang Regie.
Hannah Steffen ist neue künstlerische Leiterin des Theaters Winkelwiese. Bild: rv
Beim Schauspielhaus Zürich arbeitete ich als freie Hospitantin und später als Regieassistentin zur Zeit von Christoph Marthaler. Dort, wie auch später als Regieassistentin am Theater am Turm in Frankfurt, konnte ich meine ersten praktischen Erfahrungen sammeln. Durch Zuschauen, Beobachten und durch Gespräche erhielt ich zusätzlich das Rüstzeug fürs Theater.
Die Winkelwiese war geprägt vom avantgardistischen Theater Marias von Ostfelden, wie ist das heute?
Mit den Erstaufführungen von Pinter-, Beckett- und Ionesco-Stücken gab Maria von Ostfelden (1896-1971) dem Haus ein klares Profil als Autorentheater, dem die Winkelwiese bis heute treu geblieben ist. Das zeigt auch das Theaterarchiv, das zurzeit elektronisch aufgearbeitet wird. Maria von Ostfelden griff stets auf Stücke ausländischer Theaterautoren zurück, da es diese in der Schweiz dazumal noch nicht in der heutigen Fülle und Qualität gab.
Wer ist Walter? (reloaded) von Ariane Koch, Regie Barbara Weber. Schweizer Erstaufführung des neu überarbeiteten Dramenprozessor-Stücks. Bild: Theater Winkelwiese
Erst im Jahr 2000 initiierte der damalige Theaterleiter Peter-Jakob Kelting (1997-2002, heute Bühne Aarau) den Dramenprozessor, ein einjähriges Stipendiaten-Programm zur Förderung von jungen Theaterautorinnen und -autoren. Heute bietet das Theater Winkelwiese als Zentrum für zeitgenössische Dramatik in der Schweiz eine einzigartige Werkstatt für szenisches Schreiben und ist vernetzt mit verschiedenen Spielstätten, etwa dem Theater St. Gallen, dem Théâtre de Poche, dem Theater Chur, dem Schlachthaustheater Bern oder der Bühne Aarau.
Mittlerweile haben 55 Autorinnen und Autoren den Dramenprozessor absolviert, 2023 kommen vier weitere dazu. Viele ihrer Stücke wurden uraufgeführt, nachgespielt, übersetzt und an renommierten Festivals gezeigt und prämiert. Viele Absolventen haben sich auch im Ausland einen Namen gemacht, unter anderen Katja Brunner, Ariane Koch und jüngst Kim de l’Horizon (*1992) – soeben wurde das Romandebüt «Blutbuch» mit dem Deutschen Buchpreis 2022 ausgezeichnet. Ebenso, wie Simon Froehlings Roman «Dürrst», ist es auch für den Schweizer Buchpreis nominiert.
Wie sehen Sie die Rolle des Theaters heute?
Für den diesjährigen Lehrgang im Dramenprozessor haben sich dreissig Personen beworben, davon hat die Jury vier ausgewählt. Wir legen heute keinen Wert auf Introspektion und innere Konflikte wie in den 1980er/90er Jahren, sondern, angesichts der massiven Umbrüche, auf eine Auseinandersetzung mit der Welt. Das Theater kann heute nicht mehr unpolitisch sein.
Die jungen Autorinnen und Autoren reden gemeinsam über die gesellschaftlichen Umbrüche und bringen ihre Ideen über das Theater zum Publikum. Doch das Theaterpublikum ist klein, die Winkelwiese fasst etwa fünfzig Zuschauer. Es gibt kaum mehr Theaterbesprechungen in den Zeitungen, diese beschränken sich auf die grossen Häuser. Trotzdem bleibt das Theater gerade durch den direkten Kontakt zum Publikum eine wichtige Plattform auch für die Jungen. Selbst dann, wenn sie zusätzlich ihre eigenen Kanäle nutzen. Kim de l’Horizons Messages verbreiten sich wirksam auf Social-Media-Plattformen.
Kim de l’Horizon, Hänsel & Greta & The Big Bad Witch, Regie: Ruth Mensah. Greta möchte die Welt retten und erhält unerwartet Hilfe von der gar nicht bösen Hexe. Bild: © Yoshiko Kusano.
Bezüglich Nachhaltigkeit tauschen wir die Stücke in unserem Theater-Netzwerk aus und produzieren selbst weniger. Kim de l’Horizon hat den Dramenprozessor absolviert und war in der vergangenen Spielzeit Hausautor*in am Schauspiel Bern. Kims dort inszeniertes Stück Hänsel & Greta & The Big Bad Witch hat bei uns am 14. Dezember Premiere. Umgekehrt wird das Schauspiel Bern eine Eigenproduktion vom Theater Winkelwiese bei sich zeigen.
Womit kann das Publikum in dieser Saison rechnen, wenn es die Winkelwiese besucht?
Wir sehen das Theater heute als produktives Kollektiv zusammen mit dem Publikum. Wir zeigen etwas, öffnen Denkräume, sprechen Gedanken aus. Zurzeit ist ein Stück von Ariane Koch aus dem Dramenprozessor 2013/14 im Programm, das sie eigens für die kürzlich stattgefundene Schweizer Erstaufführung nochmals überarbeitet hat und jetzt bei uns (im November zunächst noch dreimal) zu sehen sein wird: Wer ist Walter? (reloaded).
Werkstattgespräch Dramenprozessor im Theater Winkelwiese: v.l.n.r. Kian Amadeus H., Sarah Calörtscher, Anaïs Clerc, Hanna Röhrich, Moderatorin Philine Erni, sie ist verantwortlich für Kommunikation und Vermittlung am Theater Winkelwiese. Bild: rv
Unsere vier Studierenden des Dramenprozessors 2022/23 tragen ihre Arbeiten in verschiedenen Etappen in Werkstattgesprächen, auch vor Publikum, vor. Hier erfahren sie, wie ihre Texte wirken und sie können weiter daran arbeiten. Die fertige Fassung wird im Juni 2023 mit Schauspielerinnen und Schauspielern in der Winkelwiese und am Theater St. Gallen vorgestellt.
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