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Mehr Pflegeheime oder bessere ambulante Altersbetreuung?

Albert Wettstein, der ehemalige Chefarzt des stadtärztlichen Diensts Zürich, fordert eine, teils staatlich finanzierte, gute ambulante Alters-Betreuung statt 921 zusätzliche Heime bis 2040. Seniorweb fragt nach.

Die Prognosen des Obsan Berichts 03/2022 «Bedarf an Alters- und Langzeitpflege in der Schweiz. Prognosen bis 2040» lösen bei Albert Wettstein Kopfschütteln aus und er fordert eindringlich: «Die Weichen müssen jetzt gestellt werden, um unnötige Investitionen in Milliardenhöhe und zusätzliche jährliche Heimkosten von 4,7 Mia CHF zu vermeiden.»

Was prognostiziert der Obsan Bericht?

Albert Wettstein fasst das Wichtigste aus dem Obsan Bericht so zusammen: «Der Obsan Bericht 03/202 kommt zum Schluss, dass der Bedarf an Pflegeheimbetten bis 2040 ohne Änderungen in der Altersversorgung um 69,2 % zunehmen wird, was bei 59 Betten/Heim einem zusätzlichen Bedarf von 921 neuen Heimen entspricht. Wenn sich die Dauer der Pflegebedürftigkeit reduzieren würde, nähme der Bedarf nur um 58,7 % zu, das wären noch 756 neue Heime. Wenn Personen mit geringem Pflegebedarf (unter 60 Min./Tag) nicht in ein Alters-/Pflegeheim einträten, sondern mit Spitex oder in Alterswohnungen mit Dienstleistungen nach Bedarf gepflegt und betreut würden, könnte sich der Heimbetten-Bedarf auf +53,0 % resp. auf 683 neue Heime reduzieren. In der Spitex hätte das zur Folge, dass die Nachfrage im Bereich Pflege um das 1,6-fache und im Bereich Betreuung um das 1,75-fache zunehmen würde. Auch die betreuten Wohnformen müssten in diesem Fall stärker ausgebaut werden, nämlich um das 1,65-fache.»

Wie gut sind diese Prognosen?

Albert Wettstein gibt Folgendes zu bedenken: «Statt durch eine verkürzte Pflegedauer eine 11% geringere Steigerung der Pflegebetten-Nachfrage zu erwarten, scheint es sehr wahrscheinlich, diesen Effekt als grösser einzuschätzen, denn die Inzidenz der häufigsten Krankheit mit langer Pflegebedürftigkeit ist stark zurückgegangen, diejenige von Demenz beispielsweise in 28 Jahren um 45 % (vgl. Kressig). Deshalb erscheint eine Reduktion der Bettennachfrage durch die Verkürzung der Dauer der Pflegebedürftigkeit bis 2040 um 21 % wahrscheinlicher. Dies entspräche einem zusätzlichen Bedarf von nur noch 639 neuen Heimen.

Braucht es bis 2040 921 neue Pflegeheime? (Foto bs)

Die Entlastung der Pflegeheime (ohne Aufnahme von leicht Pflegebedürftigen) als Planungsvariante des Obsan basiert auf einer konservativen Schätzung, weshalb als Vorgabe für die Planung eine stärkere Entlastung der Pflegeheime möglich erscheint; bis 2040 resultierte dann nur noch ein Mehrbedarf von +40 % bis 45 %. Eine so massive Entlastung der Pflegeheime verlangt von vielen Kantonen einen massiven Ausbau der Spitex und des betreuten Wohnens, eine grosse Herausforderung für diese alterspolitisch eher konservativ Handelnden. Bei verkürzter Pflegedauer und verstärkter Heimentlastung ergäbe sich in einem kombinierten Szenario vermutlich nur noch eine Erhöhung des Betten-Bedarfs um +20 % bis +30 %, was einem zusätzlichen Bedarf von neu 293 bis 438 Heimen entspricht.»

Lösungsansatz: Bessere ambulante Altersbetreuung statt mehr Pflegeheime!

Der prognostizierte Bedarf an bei der Babyboomer-Generation nicht besonders beliebten Pflegeheimen bis 2040 kann aus der Sicht von Albert Wettstein durch eine Verbesserung der ambulanten Altersbetreuung stark reduziert werden. Dazu ein paar Fragen an Albert Wettstein:

Seniorweb: Was können Kantone und Gemeinden tun, um zukünftige Fehlinvestitionen in Heimbetten zu vermeiden?

Albert Wettstein: Ambulante Betreuung als wesentliches Element kantonaler und kommunaler Alterspolitik ist je nach Region sehr unterschiedlich entwickelt. Wenn in allen Alterswohnungen das Angebot von Betreuungs- und leichten Pflegeleistungen konsequent entwickelt wird, wird der Erfolg nicht ausbleiben. So erwartet man, dass beispielsweise in der Stadt Zürich durch den verstärkten Ausbau der ambulanten Betreuung und deren subsidiären finanziellen Unterstützung bis 2035 sogar 600 Heimbetten abgebaut werden können.

Durch welche Unterstützungs- und Betreuungsleistungen kann ein Heimeintritt hinausgezögert werden?

Eine gute soziale Betreuung (regelmässige Besuche und Ermöglichen von sozialer Teilhabe auch ausser Haus) und niedrigschwellige Haushalt-Unterstützung senkt bei schon leicht behinderten Betagten den Pflegebedarf zusätzlich und verschiebt diesen ins hohe Alter. Deshalb kommt der schweizweiten Einführung einer guten Betreuung (vgl. Wetter et al.) auch von wenig begüterten Betagten eine grosse Bedeutung zu.

Noch mehr Pflegeheime? Oder braucht es bessere, teilweise staatlich finanzierte Alters-Betreuung? (Foto bs)

Müssen Unterstützungs- und Betreuungsleistungen deswegen für weniger Betuchte subventioniert werden?

Auf jeden Fall! Und der subventionierte Ausbau von ambulanter Betreuung ist besonders wichtig, weil dazu keine Personen mit pflegerischer Ausbildung notwendig sind, sondern solche mit einer sozialen Ausbildung und von ihnen instruierte und begleitete Laien. Damit kann der «Pflegenotstand» hoffentlich bald gelindert werden.

Könnte mit solchen Subventionen Geld eingespart werden?

Gemäss Referenz-Szenario des Obsan mit einer Zunahme um 921 Pflegeheime würden zusätzlich jährliche Gesamtkosten (Preisniveau 2020) von 319 CHF/Tag x 365 x 59 x 921 anfallen, d.h. von 6,327 Mia. CHF pro Jahr, und zusätzlich Investitionskosten von vielen Milliarden Franken. Für Spitex fielen jährliche Mehrkosten von durchschnittlich 6734 CHF/Jahr/Person an (vgl. Bundesamt für Statistik (2022)), d.h. 1,003 Mia. CHF/Jahr.

Im kombinierten Szenario mit Heimen ohne Personen mit niedrigem Pflegebedarf und mit kürzerer Pflegedauer dürften sich die jährlichen Mehrkosten der Heime bis 2040 auf 2 bis 3 Mia. CHF reduzieren, aber die Zusatzkosten für Spitex auf 2 Mia CHF/Jahr erhöhen. Daraus resultiert eine relative Ersparnis von rund 3,25 Mia. CHF.

Ist die Subventionierung von Unterstützungs-und Betreuungsleistungen somit nicht ein Gebot der Stunde?

Gemäss Bericht der Paul Schiller Stiftung (vgl. Wetter et al.) würde die dringend erwünschte Verbesserung der Betreuungssituation in der Schweiz Kosten von 2 – 3 Mia. CHF/Jahr erfordern. So könnte im Vergleich zum OBSAN-Szenario eine wesentlich verbesserte Betreuung kostenneutral finanziert werden.

So erscheint ein wahrscheinlicheres Szenario für die Altersbetreuung bis im Jahr 2040 möglich, und dies erst noch bei besserer Lebensqualität als heute, dank finanzierbarem Ausbau einer guten sozialen Betreuung und dadurch weniger Leiden an Einsamkeit … und deren Folgen.

Albert Wettstein (geb. 1946), Dr.med. PD für geriatrische Neurologie UZH, Mitglied der Akademischen Leitung des Zentrums für Gerontologie, Universität Zürich. Ehem. Chefarzt Stadtärztlicher Dienst Zürich (1983 – 2011).

Literatur und Links:

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5 Kommentare

  1. Meine Antwort, es braucht eindeutig mehr ambulante und vielfältigere Altersbetreuungen.
    Wir ü65 machen heute über 20 % der Bevölkerung aus, Tendenz steigend. Also sollten wir eine starke Vertretung im Parlament haben; die Lobbyisten aus der Gesundheitsbranche machen es uns vor. Alle Studien über besseres Altern bringen wenig, wenn man sie nicht bündelt und politisch umsetzt. Wir wissen doch schon lange, dass das Altersheim nicht gerade ein Sehnsuchtsort ist und Senioren, sofern sie noch in der Lage sind, lieber zu Hause bleiben. Da braucht es dringend einen gut ausgebauten Betagten-Service. Die streng reglementierten Spitexleistungen genügen den Ansprüchen selbständiger Betagter schon lang nicht mehr.
    Die bestehende Spitex wollte zügig ausgebaut werden und den Betagten, die Dienstleistungen in Anspruch nehmen wollen oder müssen, einen unkomplizierten Zugang zu denselben ermöglichen. Besonders die Haushaltshilfe müsste massiv erweitert werden, nebst den bisherigen vermehrt auch Dienstleistungen ausser Haus, Einkaufen, auch Kleider etc., Gänge zur Ärztin/Arzt, dann Post und Finanzen, ev. Steuern erledigen, fertiges Essen bringen, Physiotherapie, Coiffeuse, Fusspflegerin, notwendige Handreichungen und Hilfe im Alltag, damit alte Menschen in Würde zu Hause leben können.
    Die Bündelung der Dienstleistungen und die Administration könnte am Sitz der Spitex etabliert werden. Ich könnte mir auch vorstellen, wie es zum Beispiel in Dänemark der Fall ist, dass bei den Gemeindeverwaltungen, im Sinne einer neuen Dienstleistung, eine Anlaufstelle oder ein offizieller Servicepool für Betagte eingerichtet wird, der die gewünschten und notwendigen Dienstleistungen für Betagte anbietet und koordiniert. Die Kosten sollten vergleichsweise mit denjenigen der Spitex und den Pflegeheimen übereinstimmen und vom Staat und den Krankenkassen, nach Einkommen und Vermögen der Nutzer*innen, übernommen werden.

    Ich sehe keinen Sinn darin, noch mehr teure Alters- und Pflegeheime zu bauen, denen das Personal fehlt. Und ob es eine gute Idee ist, noch mehr Pflege- und Putzpersonal aus dem Ausland zu rekrutieren, bezweifle ich. Den Betagten auf ihrem letzten Lebensabschnitt Personen aus anderen Kulturkreisen, mit meist schlechten Sprachkenntnissen und oft mit einem anderen Menschenbild zuzumuten, darüber sollte man sich auch Gedanken machen.

    Was die Mietwohnungsangebote für Senioren betrifft, sind die Anleger lukrativer Seniorenresidenzen längst in die Bresche gesprungen. Wie ich auf seniorweb schon öfters erwähnte, die wenigsten Rentner*innen können sich diese teuren Alterssitze leisten oder brauchen diesen Luxus nicht, um glücklich zu altern. Hier sind auch die Kommunen gefragt, die viel mehr genossenschaftliches und privates Bauen für günstiges und adäquates Wohnen im Alter unterstützen und forcieren müssten
    und Angebote auf dem freien Markt gibt es kaum.

    • Ihre Überlegungen, Argumente und Schlussfolgerungen kann ich perfekt nachvollziehen und stimme Ihnen vorbehaltlos zu! Wenn nur solche Stimmen bei Behörden und Politik besser ankämen.

  2. Freut mich sehr, dass hier Anregungen in eine, von mir als «richtig» empfundene Richtung zu lesen!
    Ich lebe als 70ig Jährige Schweizerin in Deutschland und ziehe noch dieses Jahr in ein bezahlbare Alterswohnung. Im selben Haus werden «Alte» tagsüber betreut und bekommen Mittagessen und Kaffee mit Kuchen, sowie unterhaltung. In Notlagen kann ich von da Mittagessen bekommen.
    Ich hätte noch eine zusätsliche Anregung: wenn Prävention der Beweglichkeit stattfinden würde. Muskelaufbau, Dehnen und FaszienPflege und ganz wichtig, die erhaltung der Schnellen Muskelbewegung, wären viele der Senioren, Seniorinnen länger selbständig unterwegs. Da genügt Physio allein bei Schmerzen nicht! Da müsste ein Bewusstsein der Zusammenhänge vermittelt werden. » Hilfe zur Selbsthilfe»¡

  3. Genau meine Einstellung. Wenn ich noch klar im Kopf bin, gehe ich bestimmt nicht in ein Pflegeheim. Da gibt es andere Möglichkeiten ….
    Es sollen mehr altersgerechte, bezahlbare Wohnungen gebaut werden, mit entsprechender Infrastruktur. Dies in durchmischten Siedlungen, auch mit Familien.
    In meiner Gemeinde wurde kürzlich der Bau eines überdimensionierten Pflegeheims vom Stimmvolk abgelehnt.

  4. Es ist halt so, dass ALLE verdienen wollen – auch die, die sogenannte bezahlbare Alterswohnungen bauen und betreiben.
    Wer bekommt dann eine solche Wohnung mit Zusatzleistungen? Natürlich der oder die, die sich das leisten können. Man muss schon aufpassen, dass man aufgrund des Alters oder der körperlichen Einschränkungen nicht einfach ins Altersheim abgeschoben wird (wo wiederum fette finanzielle Leistungen anfallen) und man verwaltet wird. Es geht nicht darum soziale Not zu lindern, sondern um ein gutes Geschäft zu machen und dafür werden alle Hebel in Bewegung gesetzt. Es betrifft nie die gut situierten Mitbürger sondern vor allem diejenigen, die nur eine kleine Rente haben und irgendwelche Einschränkungen – oder es passiert etwas ungeplantes!

    Ein triviales Beispiel: Ein Senior mit kleiner Rente und Grundversicherung in der Krankenkasse stolpert und stürzt in seiner Wohnung und bricht sich das rechte Handgelenk. Im Spital wird er geröntgt und erhält einen Gipsverband für 6 Wochen. Sehr besorgt wird die Spitex gebeten sich um ihn zu kümmern und es wird entschieden, dass ihn jemand beaufsichtigt, 2, 3 mal pro Woche, wenn er duscht, damit er nicht ein weiteres Mal stolpert und stürzt. Dann bekommt er Einsicht in die Rechnung, die die Krankenkasse zu begleichen hat – es sind rund 500 Franken für knapp 3 Wochen. Völlig entsetzt fragt er sich – wie sich das zusammensetzt? Er musste nie gepflegt werden. Auch sonst musste nichts getan werden, als ein kurzer Besuch von jeweils max. 30 Min. Er erfährt, dass es die normalen Stundenlöhne sind, die die Spitex verrechnen darf und dagegen ist doch nichts einzuwenden, oder? Weitere Leistungen werden minutiös verrechnet. Die Krankenkasse bezahlt problemlos. Aber die Prämien steigen endlos.

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