Es ist laut geworden in der Welt. Eine leise Wehmut schleicht herum. Ich sitze auf dem Fernsehstuhl und zappe lustlos von einem zum anderen Sender. Mich ergreift eine sanfte Melancholie. Ich schliesse den Fernseher. Zwei Kerzen schenken etwas Licht und ich überlasse mich meinen Gedanken. Der abnehmende Mond guckt aus einem Wolkenfenster und löst eine Assoziation aus. «Füllest wieder Busch und Tal / Still mit Nebelglanz, / Lösest endlich auch einmal / Meine Seele ganz; // Breitest über meine Gefild / Lindernd deinen Blick, / Wie des Freundes Auge mild / Über mein Geschick …». Es ist der ewige Mond, den der grosse Dichter besingt.
Diese Verse zähle ich zu einem meiner Vademecums. Es sind kleine Ausschnitte aus Gedichten, die ich in meiner späten Jugend freiwillig auswendig gelernt habe. Vade mecum: «Geh mit mir!», sagten die Lateiner. Ein Vademecum ist wie ein Freund, der mich durch das Leben begleitet und mir beisteht, wenn ich in einer Situation ein gutes Wort brauche.
Sie haben den Dichter der zitierten Zeilen gewiss erraten und werden vielleicht sagen: «Immer dieser Goethe». Aber Goethe ist unsterblich. Ich habe in meinem Leben immer wieder Zuflucht bei Dichterinnen und Dichtern gesucht und gefunden. Es war nicht allein Goethe, der mir gute Worte geliehen hat. Nie vergesse ich meinen Hölderlin und einige Lyrikerinnen wie Hilde Domin und Annette von Droste-Hülshoff.
Ich schreibe an einer Kolumne. Sie sollte einfach wie der Spaziergänger Robert Walser daherkommen, der über einen Feldweg geht. Sprechen sollte sie mit leichter Zunge, selbst, wenn sie ein schwieriges Thema behandelt. Bei dieser Arbeit fühle ich mich leicht gepresst und ich weiss, die Leserinnen und Leser dürfen davon gar nichts mitbekommen. Ich atme tief und seufze. In einem solchen Moment kommt mir Goethe zu Hilfe. «Im Atem holen sind zweierlei Gnaden: Die Luft einziehen, sich ihrer entladen; jenes bedrängt, dieses erfrischt; so wunderbar ist das Leben gemischt. Du danke Gott, wenn er dich presst. Und dank ihm, wenn er dich wieder entlässt». Bald habe ich das Gefühl, die Kolumne sei auf gutem Weg.
Die letzten vier Verse von Goethes Gedicht «Selige Sehnsucht» gingen mit mir den Weg durchs Leben. Das Gedicht handelt von einem Schmetterling, der begierig um die Flamme einer Kerze flattert und sich schliesslich die Flügel verbrennt. Nie wäre mir früher in den Sinn gekommen, dass es sich um ein Liebesgedicht handeln könnte. Die Metapher des flatternden Schmetterlings, der sich die Flügel verbrennt, entschlüsselte sich mir nicht. Mich faszinierten die letzten Worte und ich bedachte das rätselhafte Verhalten des Schmetterlings nicht. Erst jetzt, wo ich überprüfe, ob ich die Verse richtig zitiere, wird mir bewusst, dass das Gedicht einen Liebesverlust beklagt und der Dichter sich mit den Reimen tröstet: «Und so lang du dies nicht hast, / Dieses: Stirb und werde! / Bist du nur ein trüber Gast / Auf der dunklen Erde». Der viel bewunderte Sprachmeister vergass, dass er im hohen Alter nicht mehr attraktiv auf jüngere Frauen wirkte und sich mit seinem Ungestüm* die Finger verbrannte. So musste auch er sich demütig in sein Geschick fügen.
*Siehe unter anderen die Marienbader Elegie. Trilogie der Leidenschaft