Wir alle, die wir hier zu Lande aufgewachsen sind, haben in der Schule Geschichtsunterricht genossen und dabei höchst wahrscheinlich auch das Landesmuseum besucht. Mir sind von diesem Besuch vor allem all die Hellebarden, all die Waffen, die die Eidgenossen brauchten, um in den grossen europäischen Kriegen mitzuwirken, in Erinnerung.
Natürlich finden sich auch heute in der aktuellen Ausstellung alte Waffen. Aber die Kuratorinnen und Kuratoren haben die Hellebarden am Eingang gerade mal in einen kunstvollen riesigen Strauss in einer übergrossen Vase aus Stahl verwandelt und ihnen damit irgendwie das Abschreckende genommen. Super!
Es war noch im alten Jahr, als ich das Vergnügen hatte, an einer Führung durch die Ausstellung „Schweizer Geschichte“ im Landesmuseum teilzunehmen. Diese Ausstellung ist eher neueren Datums. Sie hat den ehemaligen „Weg durch die Schweiz“ ersetzt.
Verschiedenes hat sich verändert. Auch in der Betrachtungsweise. So unterscheidet man heute rigider zwischen Fakten und Mythen. Das finde ich wichtig. Es vermittelt einerseits echtes Wissen. Andererseits führt es uns auch zu manchem Schmunzeln, vor allem eben, weil wir nicht mehr im Jugendalter stecken.
Erinnern Sie sich an die Auseinandersetzung in der Zeitung zwischen dem Historiker Thomas Maissen und Christoph Blocher über Mythen und Fakten. Das liegt schon Jahre zurück. Ihre Standpunkte blieben unversöhnlich. Aber, dass es da einen Unterschied gibt, das ist uns spätestens seit damals bewusst. Und so haben wir vielleicht schon manches, was wir früher als Tatsache anschauten, revidieren müssen.
Dazu kommen mir drei bekannte Beispiele in den Sinn:
1. Die Schweizer Geschichte hat für mich, solange ich mich zurückbesinnen kann, 1291 begonnen. 1991 fanden dementsprechend auch die offiziellen Feierlichkeiten zu 700 Jahre Schweizerische Eidgenossenschaft statt. Der Geschichtsbeginn unseres Landes erachten wir als verankert in einem Bundesbrief, der jedes Jahr Thema ist von vielen 1. August-Reden.
Aber, so wird auf dem Gang durch die Ausstellung präzisiert, damals habe es in vielen Talschaften solche Briefe, die eine Art Verträge waren, gegeben. Es war so Brauch, in einem Bundesbrief quasi festzulegen, wer was in einer Talschaft zu tun hat, wer wem was abzugelten hat oder wer für was verantwortlich ist und wie man sich gegenseitig vor Unrecht schützen wollte. Wenn man sich aber einig war, galt das als Bund. Diese Bundesbriefe lassen sich aber noch nicht als feste Beweise dafür erklären, dass es einige Jahrhunderte später zu einer Entstehung eines Staates gekommen sei. Vielmehr suchte man nach der Gründung der Eidgenossenschaft (1848) einfach nach einem Anfang unserer heutigen Schweiz. Und so legte man 1891 diesen Bundesbrief von 1291 – fast zufällig vermutlich, weil er der älteste war, den man gefunden hatte – als Beginn fest; und damit stand auch der Gründungstag der Eidgenossenschaft am 1. August 1291 fest.
Die eigentliche Entwicklung zu etwas, das sich einmal zu einem Staatenbund entwickelte – und später sogar zu einem Bundesstaat -, beginnt sich eigentlich erst im 15./16. Jahrhundert abzuzeichnen: Hinweise dafür kann man vielleicht bereits nach dem Schwabenkrieg finden; Träume Zwinglis gab es auch schon in dieser Sache zur Zeit der Reformation (anfangs des 16. Jh.); und Konkreteres findet man vielleicht nach der Schlacht bei Marignano (1515) und dem Entschluss für einen Ewigen Frieden der 13 Kantone (1516). Die Ausstellung im Landesmuseum beginnt denn auch erst in dieser Zeit.
2. Und Wilhelm Tell? Wir alle identifizieren unsere Schweiz mit dem Nationalhelden Tell, der uns vorlebt, wie man mit Mut der mächtigen (fremden) Obrigkeit entgegentritt. Wilhelm Tell mit der Armbrust auf der Schulter, wie wir ihn verehren und wie Ferdinand Hodler ihn im 19. Jh. eindrücklich gemalt hat, hat aber wahrscheinlich vielmehr mit der Figur zu tun, wie sie von Friederich Schiller in seinem berühmten Schauspieldrama (Ende des 18. Jh.) dargestellt wird, als mit irgendeiner Realität. Hat es denn Willhelm Tell überhaupt einmal gegeben? Die Frage ist nicht endgültig geklärt. Aber für uns bleibt der Tell unser Tell, dessen Mut wir bewundern.
3. Wir wissen auch nicht genau, ob das Rütli im 13. Jahrhundert schon eine schöne Wiese war. Mir klopft jeweils das Herz, und ich fühle ein Lächeln auf meinem Gesicht, wenn ich in Brunnen bin und auf das gegenüberliegende Ufer des Vierwaldstättersees schaue oder einfach auf der Gotthardstrecke über den See gucke und diesen herrlichen Flecken sehe. Vielleicht war da vor Jahrhunderten aber einfach Wald, den man später gerodet hat, wie der Name verrät. Wie auch immer: Der Rütlischwur ist für uns ein Begriff. Er macht uns diese Wiese einzigartig. Wir wollen sicher nicht auf ihn verzichten.
So möchte ich festhalten: Historische Fakten sind Tatsachen, die es gegeben hat und die entsprechend belegt sind. Es kann sein, dass sich Tatsachen im Laufe der Zeit an neue Forschungserkenntnisse anpassen müssen. Dann ist es wichtig und wertvoll, dass man das klarstellt. Mythen, andererseits, sind Geschichten, die man sich erzählt hat und die man sich von Generation zu Generation weitererzählt. Es lohnt sich nicht, darüber zu streiten, welches wichtiger ist.
Vielmehr finde ich: Beide sind sie von Bedeutung. Man muss einfach unterscheiden und transparent machen: Hier Tatsache – dort erzählte, überlieferte Geschichte, Vorstellung, Deutungsversuch. Ja, die Suche nach der Wahrheit und die Verifizierung von Fakten ist notwendig. Aber auch die Mythen brauchen wir, als Gesellschaft: In einem gesunden Mass können sie eine bildende, kulturelle Wirkung haben.
«Verschiedenes hat sich verändert. Auch in der Betrachtungsweise. So unterscheidet man heute rigider zwischen Fakten und Mythen. Das finde ich wichtig. Es vermittelt einerseits echtes Wissen.» Ihr Zitat, Frau Weber und bis dahin kann ich gut folgen.
Allerdings erleben wir ein Heute, das sich nur bedingt an Fakten hält; eigene Interpretationen werden wikipediamässig veröffentlicht und Präsidenten stellen ausgewiesenen Fakten eigens konstruierte Fakten entgegen. Gut, Thomas Maissen hat nach wie vor recht und Christoph Blocher behauptet weiterhin das Gegenteil. Lernprozesse sind das eine, ihre Verweigerung nicht gerade gescheit, aber zurzeit sehr in Mode. Seit der letzten Klassenzusammenkunft im Zürioberland weiss ich, dass hinter dem nächsten «Hoger» Morgarten lauert, immer noch und wie!
1. Natürlich haben wir «Kriegsjahrgänger» die Heldengeschichten verinnerlicht, der Militärdienst tat sein Übriges dazu – nicht bei allen, aber immerhin – doch wir spürten damals schon, dass nicht nur zwei Jahrhunderte Mittelalter fehlten, sondern auch die Neuzeit im Dunkeln blieb. Jedenfalls waren die Griechen und Römer wichtiger als jene Zeit, in die wir geboren wurden. Oder vielleicht reichte die Schulzeit wirklich einfach nicht aus, um über den 1. Weltkrieg hinauszugelangen. Bemerkenswert scheint mir auch, dass 1991 die 700 Jahrfeier zu wenig Anlass für eine kritische Beurteilung geben wollte. Natürlich immer aus meiner Sicht.
2. Wilhelm Tell
Demonstrationszüge, angeführt vom bärtigen Innerschweizer in Hirtenkutte mit geschulterter Armbrust. So echt wie Wilhelm Tell auf dem Fünfliber, ebenso wertlos seit der Neuauflage in Kupfer/Nickel statt Silber im Jahr 1968. Übrigens, die Randinschrift der Münze ist DOMINUS PROVIDEBIT, zu Deutsch «Der Hirte wird vorsorgen». Wissen die Schafe eigentlich, welchen Hirten sie nachlaufen? Und am Ende, wohin? Ich würde sagen, nach einer guten Saison in Richtung Schlachthof.
3. Das Rütli, einst Ziel einer Schulreise, eine wahrhaft prächtige, schön gelegene Wiese. Ist es nun die Wiese, auf der einst auch unser Vater zum Rapport kommandiert war oder jene, auf der der Bundesrat am 1. August mit dem Hitlergruss empfangen wurde. Oder das Stück Freiheit, über deren Verkaufswert heutzutage spekuliert wird?
Sie sehen, Frau Weber, so einfach sein die Dinge nicht, wie das Landesmuseum es haben möchte.
Die Auseinandersetzung mit den eigenen Wurzeln ist wichtig und gerade in der heutigen Zeit des Umbruchs ein Muss. Daher kommt Ihre Kolumne über die Schweizer Geschichte, gezeigt im Landesmuseum, zu einem guten Zeitpunkt und ich habe sie mit Interesse gelesen.
Die Geschichte eines Landes braucht Mythen und Sagen, mündlich überlieferte Geschichten aus alter Zeit, sind sie doch die Seele eines Volkes. Wie Sie richtig festhalten, sind es jedoch zwei Paar Schuhe, Mythos und belegte Fakten, man muss sie auseinanderhalten, damit wir uns als Land im rechten Licht sehen und uns weiter entwickeln können.
Unsere Vorfahren waren u.a. Krieger, bezahlte Söldner in fremden Diensten, Verbündete oder Untertanen fremder Herrscher. In der Schweiz gab es Bürgerkrieg, bittere Armut und Elend und als Folge davon eine grosse Auswanderungswelle.
Man vergisst auch oft, dass es der grosse französische Kriegsherr Napoleon Bonaparte war, der den zerstrittenen Haufen der frühen Eidgenossen durch eine Neuorganisation unter seiner Ägide in die Neuzeit führte. Schliesslich ist auch die Neutralität der Schweiz, so wie auf dem Rütli beschworen, ein Mythos. Die moderne «dauernde Neutralität» der Schweiz, wie wir sie heute kennen und vertreten, geht auf den Wiener Kongress von 1814/1815 zurück, wo die Siegermächte nach der Niederlage Napoleons, die Grenzen neu setzten und schliesslich der Schweiz die Neutralität zugestanden.
Ich meine, es ist doch eine Überlegung wert, wie die heutige Schweiz den Begriff ihrer Neutralität versteht und in Zukunft anwenden will.
Welche Neutralität, Frau Mosimann? Die FdP will mit der NATO anbandeln, derweil der Gottvater von Herrliberg mit seiner Initiative die Neutralität in die Bundesverfassung einmeisseln will, Die Mitte hält sich wie immer bedeckt und die Linke weiss gar nicht so recht, wovon wir reden. Ist es nun die Neutralität von Herrn Cassis, oder jene von Zug oder von Hinterpfupfigen, die Neutralität der Banken oder der ewig Abseitsstehenden? Unser Demokratieverständnis lässt dermassen viele Vorstellungen zu, die eine offene Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation und Europa beinahe verunmöglicht.
PS: «und schliesslich der Schweiz die Neutralität zugestanden» Frau Mosimann, die Siegermächte haben der Schweiz die Neutralität verordnet.
Der «Gottvater von Herrliberg» finde ich ja witzig; als nicht Zürcherin habe ich diese Bezeichnung für Milliardär Blocher noch nie gehört; merk ich mir.
In der Debatte um unsere festgeschriebene Neutralität war mir vor allem wichtig in Erinnerung zu rufen, dass wir uns als Land nicht selbst dafür entschieden haben, sondern wir uns 1814/15, auf Entscheid der europäischen Siegermächte, zur bewaffneten Neutralität verpflichten mussten.
Ein nicht unerheblicher Unterschied zu dem, was die SVP behauptet und damit ihre Vorstellung der Schweiz zementieren und anderen aufzwingen will. Eine Politik, ähnlich wie bei Putin und anderen von patriarchalen, machtgeilen Besessenen längst vergangener Zeiten. Bisher jedoch „nur“ mit den Mitteln verbaler, medialer und finanzieller Gewalt und durch demokratische Schranken im Zaum gehalten. Wie lange wohl noch?
Wir wissen, dass es der Schweiz gut geht und dass sie wohl widerwillig, doch trotzdem Teil einer Welt ist, die schlecht läuft; aber es gibt einen mit Absicht genährten Groll, der den echten politischen Wettbewerb ausschliesst. Ein Verlangen nach Vergeltung, ein Hass auf Andersdenkende, der uns glauben lässt, dass wir nicht mehr in der Politik sind. Erstaunlich für ein Land, das scheinbar die direkte Demokratie erfunden hat. Um konkret zu sein, siegreich oder besiegt, wird die SVP ein geteiltes Land hinterlassen, das sie teilen und gegen sein eigenes erheben wollte. Und man wird wieder zum Dreigestirn der Demokratie zurückfinden müssen: Rechte, Pflichten und Verantwortung.
Wir müssen uns besinnen auf das Wesentliche, so wie Herr Schaller sagt. Was ist jetzt gerade nötig es anzupacken oder zu unterstützen. Nur schon, dass wir auf dieser Plattform unsere Gedanken und Meinungen teilen, ist ein Schritt nach vorne. Es sollten sich noch mehr trauen, hier ihre Meinung zu einem Thema zu äussern, das uns die fleissigen Kolumneschreiber*innen zu verschiedensten Theman gratis anbieten. Ich würde mich sehr freuen.