Léo und Rémi, beide 13-jährig, sind beste Freunde, stehen sich wie Brüder nahe, teilen alles miteinander. Mit dem Wechsel auf eine neue Schule gerät ihre Verbundenheit ins Wanken, mit tragischen Folgen. Der Regisseur Lukas Dhont schuf mit «Close» ein feinsinniges, vielschichtiges Melodrama über das Ende einer Kindheit. Ab 2. Februar im Kino.
Fremde Welten und fremde Menschen kennenzulernen, ist oft ein Grund für meine Filmbesprechungen. Fremd können aber auch wir selbst und die Nächsten uns sein. «Close» des belgischen Filmemachers Lukas Dhont ist die Geschichte des Erkundens solcher Entwicklungen bei zwei Buben. Der Film kann sensibilisieren, uns selbst und die Mitmenschen besser zu verstehen. Und dazu meint Max Frisch in einer Notiz: «Das Fremdeste, was man erleben kann, ist das Eigene einmal von aussen gesehen.»
Rémi und Léo im Paradies der Kindheit
Erst nach einem leisen, geheimnisvollen Flüstern von zwei jugendlichen Stimmen taucht ein Bild aus dem Schwarz auf. Zwei Junge verstecken sich vor einer unsichtbaren Ritterarmee, umzingelt von mindestens 80 Mann. «Hörst du nicht die Schritte und das Klappern der Rüstungen?» Auf drei, zwei, eins rennen die beiden los, durch den Wald, auf ein offenes Feld, in ein Blumenmeer hinein, wild, lachend, weiter und weiter, ins Helle, Bunte, Strahlende. So beginnt der Film, der bereits in den ersten Sekunden den Ton angibt für eine intime, private Geschichte einer Freundschaft zweier 13-Jähriger, vom Ende ihrer Kindheit zum Anfang ihres Erwachsenwerdens. – Die eingestreuten Zitate stammen aus einem Interview mit dem Regisseur, das im Anhang integral wiedergegeben ist.
«Close», diese Ode an eine unbeschwerte Kinderfreundschaft, spielt im ersten Teil in den Beeten einer Blumenzucht, deren Besitzer Sophie und Peter die Eltern des Blondschopfs Léo sind. Begleitet von Rémi, seinem Freund, wirbelt dieser durch das Blumenmeer wie durch ein irdisches Paradies, wo es das ganz Jahr Blumen gibt, werdende, zu pflückende, verwelkende. «Ich komme selbst aus einer Kleinstadt mitten auf dem Land, 20 Minuten von Gent entfernt. Das ist die Welt, in der ich gross geworden bin. Ich rannte immer durch diese Felder. Die Blumenzucht gleicht der Farm, wie ich sie aus meinem Heimatdorf kenne, wo diese Blumenfelder neben Glück auch Verletzlichkeit ausstrahlen.»
Nach dem Erfolg seines Erstlings «Girl» hatte Lukas Dhont grosse Mühe, sich davon zu befreien und auf ein neues Thema einzulassen. «Ich schrieb ein paar Wörter nieder: Freundschaft, Intimität, Angst, Männlichkeit, daraus entstand «Close».» Erst nach dem gemeinsamen Besuch des Schulhauses, in dem er zur Schule ging, kam Dhont wieder ganz zu sich und wurde frei für Neues. «Ich fühlte mich von den Erinnerungen regelrecht überwältigt, wie es damals gewesen war, als ich in die Schule ging und es mir schwerfiel, mein wahres Ich zu zeigen. Die Jungs verhielten sich auf eine gewisse Weise, die Mädchen auf eine andere, und ich hatte den Eindruck, in keine dieser Gruppen hineinzupassen. Ich denke, dass ich jetzt beide bin: Léo und Rémi. Es dauerte nicht lang, bis ich feststellte, dass ich einen intimen, persönlichen Film machen will, mit dem ich Dinge erforsche, die mich als Teenager bewegt und verstört haben. Ich komme selbst heute nur bedingt mit den schmerzhaften Jahren in der Grundschule und der Oberschule klar. Also versuche ich, etwas über diese Welt aus meiner Perspektive zu erzählen.»
Rémi und Léo, hinten Vater und Mutter von Léo (v. l.)
Aus dem Paradies vertrieben
Ähnlich wie es dem jungen Lukas in seinem Leben ging, so geht es Léo und Rémi im Film, zum Zeitpunkt, als die Buben und Mädchen der neuen Klasse über das Bubenpaar zu foppen beginnen. Léo leidet darunter, geht deshalb zu Rémi auf Distanz, dieser wiederum schliesslich sich ab und sucht stattdessen Anschluss bei den härteren Jungs eines Eishockeyteams. Beide werden zutiefst verletzt, denn schmerzhaft quälen sie Fragen ihrer Beziehung. Ihre gemeinsame Welt bricht auseinander. Rémi sieht nur noch einen Ausweg. Die homophoben Hänseleien seiner Mitschülerinnen, vor allem seiner Mitschüler forcieren ihre sonst schon unsichere Identität. Eine eindrückliche, differenzierte Beschreibung eines brutalen Ent-Liebens, nach einem spontan gewachsenen Ver-Lieben ist «Close».
Wie in «Girl», seinem Erstlingsfilm, in dem eine körperlich-seelische Geschlechtsumwandlung erfolglos versucht wird, reflektiert Dhont in «Close» die Situation, die hartnäckig sich haltenden Wertvorstellungen, wenn es um Geschlechterrollen geht. Er zeigt, wie früh sich dieser Drang einer eindeutigen Einordnung und Zuteilung von Eigenschaften, die man an den Geschlechtern festmacht, der Entwicklung des Individuums im Wege steht.
Léo als harter Kämpfer
Léos Reise auf dem Weg zum Erwachsensein
«Dass der Film eine Tragödie wird, kam mir erst später. Allerdings war es meine Absicht, einen Film zu machen, der sich vor Freunden, zu denen ich den Kontakt verloren hatte, verbeugt. Oft war es meine eigene Schuld, weil ich zu viel Abstand gewahrt und das Gefühl hatte, ich hätte sie betrogen. Es war eine verwirrende Zeit, und ich fand damals, dass es der beste Weg war, mich zu distanzieren.» Offensichtlich drückt Léos Helm im Sport etwas von seiner Abgrenzung, Isolation, ja Einsamkeit aus, die oft zur Befindlichkeit in der frühen Adoleszenz gehört.
«Weiter wollte ich etwas erzählen über den Verlust eines Menschen, der einem nahe steht, und darüber, wie wichtig die Zeit ist, die wir mit denen verbringen, die wir lieben. Im Kern der Geschichte steckt das Ende einer engen Beziehung, es geht um Verantwortung und Schuldgefühle, die daraus entstehen. In gewisser Weise könnte man vom Beginn der Reise zum Erwachsenwerden sprechen. Es ging mir um die schwere Bürde, die wir zu tragen haben, wenn wir uns für etwas verantwortlich fühlen, aber nicht in der Lage sind, darüber zu reden. Léo, die Hauptfigur, muss dieses Gefühl verarbeiten, das aus dem Verlust einer engen Freundschaft entsteht, die seine Identität definiert. Ich wollte auf der Leinwand zeigen, was genau es ist, das sein Herz hat brechen lassen.»
Léo mit Rémis Mutter Nathalie
Die Menschen hinter und vor der Kamera
Eine Inspirationsquelle für Lukas Dhont war das Buch «Deep Secrets» von Niobe Way, in dem die Autorin 100 Jungen zwischen 13 und 18 nach ihrer Befindlichkeit befragt hatte. Es half ihm, zu verstehen, dass er nicht der einzige schwule Junge war, der in seiner Jugend Schwierigkeiten mit seiner intimen Freundschaft hatte.
«Close» lebt vom Spiel der Darsteller und Darstellerinnen: von Eden Dambrine als Léo, Gustav de Waele als Rémi, Émilie Dequenne als Sophie (bekannt aus dem Dardenne-Film «Rosetta» als Rémis Mutter, Léa Drucker als Rémis Mutter Nathalie.
Die Stimmung vermittelt Frank van den Eeden an der Kamera mit Bildern, die im ersten Teil die Komödie mit den Figuren choreografieren, im zweiten die Tragödie in dramatischen Szenen stilisieren. Diese Bilder werden begleitet von der Musik von Valentin Hadjadj, die uns mitnimmt auf die hochemotionale Reise. Alles basierend auf dem Drehbuch von Angelo Tijssens und Lukas Dhont, der auch die Regie führte und 2022 in Cannes den Grossen Preis erhielt.
PS 1: Zum Titel: «Die erste Idee, die wir für den Titel hatten, war das Lied «We Two Boys Together Clinging». Dieses bezieht sich auf ein Gemälde von David Hockney, das von einem Gedicht Walt Whitmans inspiriert ist und für die Brüderschaft zwischen zwei Männern steht. «Clinging» ist ein besonders expressives Wort für die Sehnsucht, eng mit einem anderen Menschen verbunden zu sein.»
PS 2: Zum Thema: Mir scheint es wichtig, dass das Thema der Identitätsfindung, auch bei der Homosexualität respektive Homoerotik, in der Literatur wie im Film, auf verschiedene Weise angegangen wird: sensibel und feinfühlig wie hier in «Close» von Lukas Dhont, provokativ und radikal wie im aktuell diskutierten «Blutbuch» von Kim de L’Horizon, das Ruth Vuilleumier im Seniorweb, nach meiner Meinung, sehr gut beschreibt und einordnet.
Interview mit Lukas Dhont, dem Regisseur von «Close»
Gespräch von Léa Drucker und Émilie Dequenne, in Cannes