StartseiteMagazinKulturDie wilden Kerle aus der Kruggasse

Die wilden Kerle aus der Kruggasse

Drei Bewohner des Zürcher Niederdorfs sind in der Gegenwart aufgetaucht: Kohli, Knecht, Kuhn ihre Namen. Bekannt wie bunte Hunde waren die Künstler Mitte des letzten Jahrhunderts.

Die Kruggasse, heute eine eher ruhige Ecke im Dörfli, war in den 50er Jahren in zweierlei Hinsicht ein Hotspot. Dort gab es ein Lokal, dessen Ruf damals schlimmer als der aller Striptease-Schuppen zusammen war, nämlich den Schwarzen Ring: Hier verkehrten Halbstarke, sie rauchten, sie flipperten, sie fuhren mit dem Töff vor, allerdings gab es in dem Lokal keinen Alkohol, und Polizeistunde war im streng reformierten Zürich der Nachkriegsjahre ohnehin schon um elf. Dem Bier und Hochprozentigem sprachen die Stammgäste im Grünen Krug dagegen umso mehr zu. Dort waren auch die erwähnten drei Stammgäste. Sie wohnten auch gleich über dem Lokal.

Richard E. Kohli: Tiger. Holzschnitt, undatiert. Foto: Manuela Hitz

Willkommen im Tigerkäfig! hat Richard E. Kohli, der auch Mathematiklehrer war, über seine Tür geschrieben. Jetzt wurde der Gruß wiederbelebt als Überschrift der Ausstellung über den Hotspot von damals in der Kruggasse. Was das bürgerlich-konservative Zürich schockierte, hat in den folgenden Jahrzehnten eine kreative Szene nachhaltig geprägt – über die Zürcher Bewegung und die Wolgroth-Belebung von 1990 hinaus vielleicht bis heute zum Kochareal und weiter.

Richard E. Kohli: Blick vom Dach der Kruggasse 4. 1956. Foto: Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich

Fast ein Zufall, oder ein Glücksfall ist es, wie der Kunstpunkt an der Kruggasse entstanden ist: Jahre, bevor die Stadt Zürich ein erstes Atelierhaus an der Wuhrstrasse anbieten konnte, hat Louis Jent, Schriftsteller, Verleger, später Filmer, sechs Wohnungen an der Kruggasse Nummer vier pauschal für 500 Franken mieten können und sie an Künstlerfreunde weitergegeben. Unter anderen an den Tigerzeichner Richard E. Kohli, an Fred E. Knecht, den die Zerstörung der Natur schon damals umtrieb, und an Friedrich Kuhn, dessen kreative Energie sich in Malerei und verrückten Happenings entlud.

Friedrich Kuhn (1926 – 1972) war Künstler, Anarchist und Performer avant la lettre, war Exzessen jeder Art zugeneigt. Er wurde der bekannteste der drei, hatte auch einige Einzelausstellungen zu Lebzeiten. Seine Verrücktheiten sind zum Teil bis heute legendär, zum Beispiel die gross angekündigte Performance in Kohlis Atelierwohnung, die er saufend und schliesslich schlafend hinter einem Vorhang verbrachte, während das Publikum gespannt auf den Auftritt wartete.

Aus: Notizen und Skizzen über Friedrich Kuhn von Fred E. Knecht. 

Fred Engelbert Knecht (1934 – 2010), der Freund und Biograph von Friedrich Kuhn, malt statt idyllischer Natur das, was die Realität bietet, nämlich das Vordringen von Beton und moderner Technik, zugleich aber auch die Rückkehr des Urwalds in die Zivilisation. Seine Bilder sind fantastische Urwaldszenerien im urbanen Raum, die Franz Hohlers Rückeroberung vorwegnehmen, während seine beklemmende Van-Gogh-Serie krass zeigt, was die Menschen in und mit der Natur anrichten.

Fred E. Knecht: Nach «Der Sämann bei untergehender Sonne» von Vincent van Gogh. Foto: Manuela Hitz

Richard E. Kohli (1920 – 1974) hat ein Aquarell mit Blick von der Kruggasse über die Altstadt in der Ausstellung, sein Lieblingsmotiv indessen war der Tiger. Das Tier gibt es allein oder auch im Doppel als Liebespaar, häufig als Holzschnitt. Sein Wohnraum an der Kruggasse sei mit Tigerbildern ausdekoriert gewesen und eben: Über der Wohnungstür lud er die Besucher in den Tigerkäfig ein.

Zweimal das Plakat von Friedrich Kuhn. Links der Entwurf, rechts die zensurierte Fassung. Foto: Manuela Hitz

Nach einer fernen Welt mit Palmen, Raubtieren, Urwald sehnten sich alle drei in unterschiedlicher Weise. Wobei Palmen-Maler Kuhn wegen eines Plakats mit Palme und Pinup für eine Ausstellung subito stadtbekannt wurde: Das Plakat passierte die gestrenge Obrigkeit nur zensiert: das halbnackte Girl war für das prüde Zürich damals schon zuviel.

François Viscontini inmitten seiner Sammlung, die er zur Tigerkäfig-Ausstellung im Musée Visionnaire eingerichtet hat. Foto: Eva Caflisch

Zu den drei K-Künstlern haben die Ausstellungsmacherinnen den idealen Verbindungsmann zwischen einst und jetzt eingeladen: François Viscontini (*1944): Er führt heute an der Kruggasse 8 den Coin de Vue, eine winzige Galerie, malt selbst und sieht in Kunstwerken und in der Musik «die Trostquellen in einer kalter Zeit». Er ist ein Spätgeborener, aber er hat Friedrich Kuhn und seine Kumpane erlebt und wusste schon als Jugendlicher, dass er Künstler werden würde. Nun bringt er Teile seiner Sammlung ins Museum zur Retrospektive: Viscontinis bunte Minigalerie ist zu Gast, ab und zu ist der Galerist persönlich anwesend.

François Viscontini: Nachthafen. Foto: Manuela Hitz

Im Musée Visionnaire ist eine eindrückliche Auswahl an Bildern, Zeichnungen, Grafik und Objekten von drei Visionären zu sehen. Und die Legenden, die sich um ihre Leben ranken. Auf der Suche nach mehr Geschichten aus der Kruggasse haben die Ausstellungsmacherinnen zum Mittel der Oral History gegriffen. Manuela Hitz und Yvonne Türler haben Interviews mit Zeitzeugen – männlichen und weiblichen – geführt. Diese Gespräche sind im Booklet zur Ausstellung nachzulesen.

Friedrich Kuhn: Tuschezeichnung, undatiert. Foto: Manuela Hitz

Wer den Blick zurück noch direkter mag, schaut sich die Filmdokumente an, darunter eine heutzutage sehr fremdartig wirkende Reportage des Schweizer Fernsehens mit Halbstarken – gesittete Jugendliche von heute aus betrachtet –, die vor allem deklarieren, wie sie sich von ihren Eltern unverstanden fühlen. Freilich haben diese jungen Leute die Szene im Grünen Krug kaum wahrgenommen. Mit Ausnahmen, wie dem erwähnten François Viscontini. Er hat die Künstlerhochburg mit den exzentrischen Bewohnern und Besuchern dank der Rockkonzerte im Schwarzen Ring kennengelernt, die den Musikfan schon als 14jährigen in die Kruggasse brachten.

Die Krug-Szene war letztlich der Aufbruch einer Kunstbewegung, die sich von den bereits arrivierten Zürcher Konkreten um Max Bill und Richard Paul Lohse abgrenzen wollte. Nebst den drei mit dem K-Namen gehörten auch Varlin, Muz Zeier, Alex Sadkowsky, HR Giger und viele andere zu dem Kreis – einige sind mit ihren Werken nun in Viscontinis Galerie-Outlet im Museum vertreten.

Friedrich Kuhn: Komposition, undatiert. Kunstsammlung Stadt Zürich. Foto: Manuela Hitz

Die Ausstellung regt an, das Booklet zu erwerben, denn die Stimmen von Zeitzeugen, darunter René Simmen, bekannter Gastro-Journalist, Silvio Ricardo Baviera, der sehr früh Werke von Friedrich Kuhn gesammelt hat und ihn im nächsten Sommer ausstellen will, bereichern und erklären die Szene weiter. Zwar auch ausgestellt, aber beim Durchgang gern übersehen sind die Notizen, die Knecht regelmässig über Kuhn und Clique schrieb. Ein Beispiel:

«Varlin wollte unbedingt zum siebzigsten Geburtstag einen Joint rauchen. Wir präparierten ihm einen roten Liban. Bevor er lospaffte, machte er eine Zeichnung von mir. Aber beim zweiten Zug fiel ihm der Filzstift aus der Hand und er lief grün an. Nachher kotzte er die Nacht durch und wir waren froh, dass er überlebte und gingen dann alle ins Bahnhofbüffet.»

Titelbild: Fred E. Knecht: Bahnhofplatz. Foto: Manuela Hitz
Fotos: © Manuela Hitz. Alle Rechte vorbehalten.
Bis 14. Mai
Weitere Informationen zur Tigerkäfig-Ausstellung im Musée Visionnaire, Zürich

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