Eine Ausstellung im Burgerspittel im Berner Viererfeld zeigt Werke des Fotografen Eugen Thierstein. Sein Nachlass befindet sich in der Burgerbibliothek Bern.
Eugen Thierstein (1919 – 2010) arbeitete von Anfang der 40er-Jahre bis Mitte der 60er-Jahre als selbständiger Fotograf mit eigenem Atelier in Bern. Seine Ausbildung hatte er beim berühmten Guisan-Fotografen Hans Steiner absolviert, dessen Nachlass sich im Museum Photo Elysée (MCBA) in Lausanne befindet. Die Handschrift seines Lehrmeisters ist in Thiersteins Aufnahmen unübersehbar: Dokumentarisch, schlicht, schwarz-weiss. Nach der Lehre besuchte der junge Thierstein die Fotoschule in Vevey und eröffnete schliesslich 1948 in Bern ein Atelier. Sein Hauptgeschäft waren Reportagen für Zeitschriften, Zeitungen und die Hochzeitsfotografie. Für Letztere beschäftigte er bis zu acht Personen.
Gratis-Mittagessen für die Matteschüler in der «Speiseanstalt» der unteren Stadt. 19. Januar 1943. Burgerbibliothek Bern, N Eugen Thierstein 448/10
Das Besondere an Eugen Thiersteins Fotografien ist sein Blick für das scheinbar Unscheinbare und für das Menschliche: Er fotografierte ganz gewöhnliche Leute, aber auch Berühmtheiten, Politiker sowie Models und dokumentierte die Arbeit in Fabriken, in der Landwirtschaft oder in Handwerksbetrieben ebenso wie sozial Schwache, Frauen und Kinder. Der Fotograf produzierte keine Massenware, wie sie heute in den sozialen Medien millionenfach verbreitet wird. Er war vielmehr ein sensibler Chronist seiner Zeit, indem er stets den Menschen im Blick hatte.
«Weihnachtsesel» der Berner Singstudenten, 13. Dezember 1941. Burgerbibliothek Bern, N Eugen Thierstein 265/3
Thierstein besass ein feines Gespür für das scheinbar Alltägliche und Selbstverständliche. Seine Aufnahmen erzählen vom rasanten Wandel des Stadtbilds, von den grossen Veränderungen in Gesellschaft und Arbeitswelt. An der Vernissage pries der Berner Filmemacher, Fotograf und Journalist Bernhard Giger Thiersteins Werke als «Zeitdokumente». Typisch seien der unkomplizierte Blick, die Nähe, das Einfühlungsvermögen der Zuschauenden und die durch die Fotos freigesetzten Emotionen. Thierstein sei kein Kunstfotograf gewesen, sondern ein «Dienstleister für die Gesellschaft», meinte Giger.
Beobachter bei der Ziehung der SEVA-Lose im Kursaal Bern, 23. Dezember 1942. Burgerbibliothek Bern, N Eugen Thierstein 261/121
Der Berner Fotograf starb 2010. Fünf Jahre später, im Jahr 2015, übergab Thiersteins Tochter Annemarie den Nachlass ihres Vaters an die Burgerbibliothek. Nach Aussage von Direktorin Claudia Engler ist der Nachlass für das Archiv- und Handschriftenzentrum an der Münstergasse «ein Glücksfall». Er ergänzt die bisherigen fotografischen Bestände in seiner Vielfalt. Die burgerliche Institution stellt sicher, dass der kulturelle Wert des sensiblen Fotonachlasses konservatorisch optimal erhalten und inhaltlich erschlossen wird. Die Aufarbeitung der Sammlung übernahm der wissenschaftliche Archivar Philipp Stämpfli. Über den Online-Archivkatalog der Burgerbibliothek Bern sind Thiersteins Aufnahmen auch der Öffentlichkeit und der Forschung zugänglich.
Annemarie Thierstein, die Tochter des Fotografen (Mitte), Philipp Stämpfli, Burgerarchivar (links) und Bernhard Giger, Kurator, Fotograf und Filmemacher (rechts). Foto PS.
Die von Bernhard Giger kuratierte Ausstellung in der Cafeteria des Burgerspittels im Viererfeld dauert bis zum 23. Juli 2023. Sie kann ohne Anmeldung besucht werden. Die Öffnungszeiten sind montags bis sonntags von 7.30 bis 19 Uhr.
Soldaten spielen Schach. Eugen Thierstein dokumentierte nicht nur die offiziellen Seiten des Soldatenlebens. So zeigte er neben spielenden Soldaten auch nachlässig gekleidete, die die Freizeit geniessen oder im Wirtshaus sitzen. 1939-1945. Burgerbibliothek Bern, N Eugen Thierstein Fr/22
Dem Fotografen Eugen Thierstein widmet die Burgerbibliothek in ihrer Schriftenreihe den neusten Passepartout «Der Fotograf Eugen Thierstein». 2023. Fr. 39.– ISBN 978-3-7272-6161-9. Die Publikation kann im Buchhandel oder in der Stämpfli Buchhandlung erworben werden.
Titelbild: Markt in Bern, 14. März 1944. Burgerbibliothek Bern, N Eugen Thierstein 269/116.
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Persönliche Anmerkung: Die Gratismahlzeit in der Speiseanstalt in der Unterstadt von Bern gabs noch bis in die 1960iger Jahre und war damals meines Wissens für alle Bedürftigen zugänglich. Meine Mutter war alleinerziehend und hat immer ganztags gearbeitet. Als KV-Stift konnte ich eine kurze Zeit an Schultagen dort eine gute und warme Mahlzeit einnehmen. Ich erinnere mich noch gut an die netten älteren Frauen mit ihren sauberen Schürzen, die das Essen ausgaben.