StartseiteMagazinKulturSennen-Leben: Realität und Schönheit

Sennen-Leben: Realität und Schönheit

«Sennen-Ballade» 1996: Der vor 27 Jahren von Erich Langjahr realisierte Dokumentarfilm mit dem Untertitel «Zum 150. Geburtstag der modernen Schweiz» kommt in restaurierter, digitalisierter Fassung wieder ins Kino und lädt auch heute noch zum Denken und Sinnieren ein. Ab 16. April im Kino.

Die Ballade, eine längere Gedichtform, erzählt spannende Geschichten, deren Besonderheit es ist, dass sie lyrische, dramatische und epische Elemente enthält. Das gilt auch für die «Sennen-Ballade» des 1944 in Baar geborenen Filmemachers Erich Langjahr, der den Schweizerfilm mit mehr als zwölf langen und ebenso vielen kurzen Filmen bereichert hat.

In letzter Zeit zeigen Dokumentar- und Spielfilme vermehrt Langzeitbeobachtungen, beziehen damit die Zeit in die Biografien ein und bereichern diese. Eine ähnliche Wirkung erzielen alte Filme, wenn sie nach vielen Jahren wieder geschaut werden. So geschehen mit «Bruder Klaus» von Edwin Beeler und jetzt mit «Sennen-Ballade» von Erich Langjahr, die 1996 realisiert wurde und 2023 perfekt restauriert und digitalisiert wieder ins Kino kommt. Wann der Film, wo und ob vom Regisseur begleitet, gezeigt wird, ist der Website von Langjahr-Film zu entnehmen. – Wie bei Beelers Film mache ich es mit Langjahrs neuem altem Film, indem ich Filmbesprechungen aus dem Entstehungsjahr 1996 hier wiedergebe. Meine persönliche Wertung folgt am Schluss.

Besprechungen der «Sennen-Ballade» aus dem Jahre 1996/97

Ironisch-sarkastisch, ja provokativ wirkt zunächst der Untertitel «Zum 150. Geburtstag der modernen Schweiz», in Anspielung auf das Jubiläum des 1848 gegründeten eidgenössischen Bundesstaates. Denn die bäuerliche Lebensweise der Familie Meile steht in unvereinbarem Gegensatz zur Welt des Neokapitalismus mit seiner Profitmaximierung, der Shareholder-Values, des New Management, des Konsumismus, des Raubbaus an den Ressourcen, der esoterischen Sinnsuche und des rasenden Werte- und Paradigmenwandels. Werner Meiles Dasein wird von ganz anderen Gesetzen als die «moderne Schweiz» und eine wildgewordene, entsolidarisierte Marktwirtschaft bestimmt: Vom Wechsel der Jahreszeiten, von den Bedürfnissen des Viehs, vom Rhythmus der täglichen Arbeit. Und dennoch steht Meiles Welt mitten in dieser Zeit – als Anachronismus, heile Welt, Provokation?

Wer im Kino den schnellen, flüchtigen Reiz sucht und sich Augen und Gehirn von pausenlos wechselnden Bildern und Ereignissen überfluten lassen will, kommt hier nicht auf seine Rechnung. Dafür schafft Langjahrs Film Zeit und Raum für die Beobachtung kleinster Details, für das eigene Empfinden und Denken. Er überfällt das Publikum nicht mit einer Kaskade von Reizen, sondern breitet eine komplexe, facettenreiche Wirklichkeit aus, mit der man sich identifizieren oder zu der man auf Distanz gehen kann. Jede Tätigkeit – sei es die Alpfahrt oder das Schnitzen einer Kuh – bekommt die Zeit, die sie braucht, um ihren Sinn, ihre Nützlichkeit oder Schönheit wahrzunehmen.

Erich Langjahr weiss sehr wohl um die Krise der Bauern, um Rinderwahnsinn, industrielle Tierhaltung und Zerfall des Fleischpreises. Dank der sorgfältig durchdachten Montage seines Films gelingt es ihm aufzuzeigen, was auf dem Spiel steht, wenn Bauern wie Werner Meile, bei dem auf der Alp so gut wie nichts «EG-konform» ist, gezwungen werden, sich dem alleinigen Gesetz von Produktion und Rendite zu beugen. Damit verschwände eine – gewiss kleine – Welt, in der die Umwelt schonend genutzt wird, in der Kinder auf die natürlichste Weise die Kenntnisse und Anforderungen des Bauerns erlernen, in der Tiere nicht als reine Produktionsmaschinen instrumentalisiert werden. Es verschwände eine der in der «modernen Schweiz» nicht mehr allzu zahlreichen Daseinsformen, in der Arbeit, Mensch und Tier ihre Identität und Würde besitzen.

Franz Ulrich, Zoom 11, 21. März 1996. Franz Ulrich, einer der Pioniere des Schweizer Filmjournalismus, ist 2022 verstorben.

Erich Langjahr («Ex Voto», «Männer im Ring») geht immer wieder von der Gewissheit aus, dass im Kleinen die Welt geborgen liegt, dass sich in der Reduktion, in der Betonung des Ausschnitts, in der Konzentration auf scheinbar weniges womöglich mehr zeigen, mehr erkennen lässt. «Sennen-Ballade» handelt also weder von der Alpromantik noch von der Kunst des Bauerns – es ist ein Film zur Kunst des Lebens. Wunderschön Erich Langjahrs Bogen von der gelben Alpaufzug-Hose des Buben Christian, der am Ende im Bemalen der Holzfiguren wieder aufgegriffen wird. Ebenso sanft, wie wir eingestimmt wurden, werden wir wieder in die Unterlandkälte entlassen, über die Miniatur des Lebens. Da gibt es weiter nichts zu sagen, da gibt es nur zu schauen: Zuschauen im besten Sinn.

Walter Ruggle, Tagesanzeiger, 8. Januar 1997. Walter ist heute Direktor von trigon-film.

Es gehört zu den auffälligsten Qualitäten dieses Films, dass er ohne Kommentar, ja praktisch ohne Dialoge auskommt. So wird Raum geschaffen für eine Senn-Meditation.

Hans M. Eichenlaub, Die Weltwoche, 5. Dezember 1996

Langjahr glaubt an die Kraft des Realen und die Reife des Zuschauers. Er plappert nicht über Arbeit, Geduld und Ruhe, er zeigt sie. Dieses langsame Tempo bietet einem schliesslich den Raum, selbst seinen Gedanken nachzuhängen und den «inneren Bauern» zu suchen.

Thomas Küng, Züritipp, 3. Januar 1997

Die grobe, schwielige Hand des Sennen, die die zerbrechlichen Kühlein und Hündchen aus weissem Holz zärtlich streichelnd zuschneidet, gehört zu den magischen Momenten. Wie die Teile der «Sennen-Ballade» – erst Frühling und Sommer, dann Herbst und Winter – einander bedingen, beleuchten, erläutern und erweitern, das hat schon lange kein Eidgenosse mehr mit so viel simpler Wirksamkeit zuwege gebracht.

Pierre Lachat, Filmbulletin, 9/1996

Der Schweizer Dokumentarist Erich Langjahr war wie schon bei seinen früheren Filmen auch bei «Sennen-Ballade» Regisseur, Kameramann, Tonmeister und Schnittmeister zugleich. So ist in zweijähriger Dreh- und einjähriger Montagearbeit ein Meisterwerk des neuen Schweizer Dokumentarfilms entstanden: eine poetische Bilderreise in eine archaische – und heute bedrohte – Welt. Erzählt wird in Bildern vom bergbäuerlichen Alltag: Melken, Käsemachen, Schweinefüttern und Mistverteilen; aber auch vom Brauchtum wie dem Alpaufzug, dem Schnitzen oder dem Klaustreiben. Intensiv wird das Bauernleben im Reigen der Jahreszeiten dargestellt. Bild um Bild folgt eine Meditation, die in die Seele der Bilder hineinführt. Langjahr lässt die Zeit erleben: Sie verstreicht, vergeht, bleibt stehen. Pausen, Wartezeiten, Wiederholungen sind nicht herausgeschnitten, sondern bewusst stehen gelassen. «In diesem Film erlebt der Zuschauer den Alltag einer Sennenfamilie am Ende des 20. Jahrhunderts», schreibt «Das Neue Deutschland», «der Film gerät zu einer Verbeugung vor einer im Untergang begriffenen Welt, einer im Stress der Moderne verschwindenden Einheit von Mensch und Natur.»

Hanspeter Stalder, Zeitlupe, Februar 1997

Die «Sennen-Ballade» 27 Jahre nach der Premiere

Alles, was meine Kollegen damals über die «Sennen-Ballade» geschrieben haben, kann ich heute noch unterschreiben. Alles, was sie über die Situation der Sennen und Bauern und deren Politik kritisiert haben, ist im letzten Vierteljahrhundert gewachsen und hat sich zu einem denaturierten Landwirtschaftskapitalismus entwickelt.

Das Wiedersehen mit dem wunderbaren Film schenkt uns Bilder, die Sinn stiften, die von inneren Werten handeln, heute auch von andern um die Zukunft der Welt Kümmernden postuliert werden: Langsamkeit und Achtsamkeit sowie Gemeinschaft zwischen den Menschen und der Natur. Erich Langjahr zeigt uns eine Welt, die im Leben vieler Mitmenschen aus ihrem Alltag zu verschwinden droht, obwohl wir sie dringend, weil notwendig, bräuchten.

Bei den Sennen im Film hat alles seine Zeit, eine erfüllte Zeit, die uns beglückt. Erleben lässt er uns das grossartige Wechseln von Innen und Aussen, Bewegung und Ruhe, Stille und Tönen, Grossaufnahmen und Nahaufnahmen erleben und wir in eine polyphone Stille innerer Harmonie eintauchen dürfen – bis die Sennen ihr Leben mit geschnitzten Figuren in eine Kunstwelt transzendieren.

Trailer

Regie: Erich Langjahr, Produktion: 1996/ 2023, Länge: 100 min, Verleih: Langjahr Film

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