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Szenen einer Ehe auf Schweizerdeutsch

Späte Ablösung der Kinder, lieblose Ehe, Scheidung wegen Langeweile sind die Themen des Abends:  Schauspieldirektor Roger Vontobel hat für «Bühnen Bern» die amerikanische Komödie «Grand Horizons» ebenso tiefgründig wie witzig inszeniert. Nicht in Hochdeutsch, sondern in Schweizerdeutsch.

Die Rahmenbedingungen dürften vielen Paaren bekannt sein: Nach fünfzig Jahren Ehe haben sich die Eheleute Heinz (Stéphane Maeder) und Irene (Heidi Maria Glössner) nichts mehr zu sagen. Wortlos nehmen sie, durch einen langen Tisch getrennt, das Nachtessen zu sich. Lieblos schiebt sie das Brot hin, er das gekochte Ei zurück. Bis Ehefrau Irene die Stille mit einer «Verbalbombe» beendet: «Ich glaube, ich möchte die Scheidung», sagt sie ohne jede Emotion. Worauf Heinz ebenso emotionslos antwortet, das sei für ihn ok.

Die beiden leben in einer Seniorenresidenz «Grand Horizons». Nur sehen sie offensichtlich keine gemeinsame Perspektive mehr in ihrer Beziehung und wünschen sich im Alter von knapp 80 Jahren einen Aus- oder Aufbruch. Laute wie leise Szenen einer Ehe können den Verlauf des Beziehungsbruchs nicht aufhalten. Die Umzugsschachteln und -säcke stehen bereit. Der Kleinlaster wartet vor der Altersresidenz.

Nachtessen mit aufgesetzten Gesten, aber ohne Worte.

Gar nicht ok sind die überraschenden Scheidungsabsichten für die erwachsenen Söhne, Jürg (Jonathan Loosli) und Dani (David Berger). Völlig entsetzt versuchen die beiden, ihre Eltern von dem fatalen Plan abzubringen. Jürg wird dabei unterstützt von seiner schwangeren Frau Nici (Jeanne Devos), die als professionelle Paartherapeutin alle Register ihrer Gesprächs- und Vermittlungstechniken zieht. Ohne sichtlichen Erfolg. Immerhin bringt die Therapeutin die vier Familienmitglieder dazu, endlich miteinander zu kommunizieren und ihre bislang verschwiegenen Bedürfnisse zu formulieren.

Der jüngere, ausgeflippte Sohn, Dani, will das Bild einer intakten Familie retten. Der ältere, Jürg, der vernünftigere, fürchtet Risse in seiner traditionellen Rolle als Mann und baldiger Vater. Mutter Irene möchte endlich berührt werden und wünscht sich eine Katze, Vater Heinz einen würdigen Tod. Im Lauf des Abends erfährt man, dass die Eltern nie richtig Streit hatten, sich aber – trotz Seitensprüngen – in der Ehe langweilen und einen Neuanfang wünschen. Neben lautem Schreien werden leise Töne vernommen, streckenweise auch feiner Humor.

Verkompliziert wird die Geschichte durch das plötzliche Auftauchen einer irren Freundin von Vater Heinz. Carla (Isabelle Menke) lässt Ehefrau Irene in einer Slapstick-ähnlichen Szene wissen, was sie von Ehe, Zusammenleben, Sexualität und Treue hält. Und schon macht sich in der scheidungswilligen Gattin Mitleid mit ihrem ebenfalls scheidungsbereiten Ehemann breit. Als der schwule Nachbar Tommy (Viet Anh Alexander Trans) versucht, Mamasöhnchen Dani zu verführen, steht das ganze Wertesystem Kopf: Hier die bürgerliche Standard-Familie, die im Zusammenleben gescheitert ist, dort das queere Balzen zweier unreifer Buben, die keine Ahnung vom Leben haben.

Irenes Lebensbeichte schockiert Sohn Dani.

Der Berner Theaterautor Gerhard Meister hat die erfolgreiche Broadway-Komödie aus dem Jahr 2020 für «Bühnen Bern» auf Schweizerdeutsch übersetzt und die amerikanische Aufmachung an die helvetischen Verhältnisse angepasst: Auf dem Esstisch steht eine Dose Aromat, das Brot wird in einem zierlichen Körbchen serviert, an der Wand wartet ein Davoser Schlitten (Bühne: Claudia Rohner). Ähnlich hoch ist in den USA wie in der Schweiz der Anteil der langjährigen Ehen, die nicht wegen Zerrüttung, sondern wegen schleichender Langeweile geschieden werden. Fachleute beziffern den Anteil der in die Jahre gekommenen Paare, die sich wegen Leere scheiden lassen, um ein neues Leben zu beginnen, auf 25 Prozent.

Vaters Verhalten provoziert das Unverständnis von Sohn Jürg.

All diese Themen – den schmerzhaften Ablösungsprozess der Kinder, die Leere einer abgeschliffenen Ehe, den Kampf um den Erhalt eines nicht mehr existierenden Wertesystems, die Hoffnungen und Sehnsüchte auf eine erfüllende letzte Lebensphase – hat Schauspieldirektor Roger Vontobel, auf tiefgründige, aber ebenso humorvolle Weise inszeniert. Das Spiel bewegt sich, je nach Szene, zwischen Personendrama, Tragikomödie und Slapstick-Einlage. Eine Boulevard-Komödie mit Schenkelklopf-Momenten ist das Stück nicht. Dafür sind die behandelten Themen zu ernst, zu realitätsnahe.

«Vielleicht ist Wahrheit der wichtigste Teil der Liebe», meint Gattin Irene gegen den Schluss konsterniert und hat damit nicht ganz unrecht. Auch Vater Heinz zieht ehrlich Bilanz, als er seinen Söhnen mit auf den Weg gibt: «Elternsein füllt einen wahrhaftig ganz aus» und gesteht damit ein, dass er während der Erziehung der Söhne seine Frau Irene jahrelang  vernachlässigt hat. An der Wahrheit ritzt Irene mit der offensichtlich frustrierten Erkenntnis: «Eine Ehe ist ein Vertrag, in dem man für jeden Blödsinn unterschreibt, nur für die Liebe nicht.»

Muttersöhnchen Dani will Mama Irene die Scheidung ausreden.

Die vielen Reaktionen des überwiegend älteren Theaterpublikums zeigen, dass die Pointen, die Entwicklungsprozesse der Figuren und die bitteren Erkenntnisse des Stücks unter die Haut gehen. Die Stimmung im Saal wechselte von Entsetzen über betretenes Schweigen bis zu schallendem Lachen. Mögen einzelne Schilderungen über sexuelle Befriedigungstechniken, männliche Körperteile und lustvolle Vorlieben einem Teil des Berner Publikums zu weit gehen: Realität ist, dass die angesprochenen Themen (und Objekte) im Jahr 2023 Realität und einem jüngeren Publikum bestens vertraut sind. Deshalb ist zu hoffen, dass auch mehr jüngere Paare sowie Singles den Weg in die Vidmar-Halle finden und sich einen Abend lang amüsieren. So wie ich es getan habe: Es darf gelacht und gleichzeitig nachgedacht werden.

Titelbild: Gleichgültige Stimmung trotz Händchenhalten: Die Eltern Heinz und Irene haben nach fünfzig Jahren Ehe kapituliert, die Kinder (rechts Sohn Jürg und links Schwiegertochter Nici sowie Sohn Dani) wollen, dass diese zusammenbleiben. Alle Fotos: Florian Spring.

«Grand Horizons» von Bess Wohl. Aus dem Englischen von Lynn Takeo Musiol und Christian Tschirner. Schweizerdeutsche Fassung von Gerhard Meister.

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Bühnen Bern

Weitere Aufführungen in Vidmar 1, noch bis 29. Juni 2023.

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