Markus Zürcher war 28 Jahre lang für die SAGW (Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften) tätig, zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter, dann als stellvertretender Generalsekretär und ab 2002 als Generalsekretär. Nun tritt er zurück. Seniorweb war bei ihm zu Besuch.
Markus Zürcher hat als Generalsekretär der SAGW mit wissenschaftlichen Texten, Medienmitteilungen, Tagungsbeiträgen, spitzen Statements und Kommentaren viele wirksame Impulse für das wissenschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Leben der Schweiz gegeben. In diesem Interview beschränken wir uns auf einige seiner gesellschafts-, bildungs- und gesundheitspolitischen Anliegen.
Seniorweb: Sie treten auf Ende Juni 2023 zurück. Wie ist Ihre momentane Gefühlslage?
Markus Zürcher: Ich bin erleichtert und in Aufbruchstimmung. Erleichtert, weil ich mit gutem Gewissen gehen kann. Nach vielen Fluktuationen haben wir ein motiviertes Team und die «Pipeline» ist mit wichtigen Themen gut gefüllt. In Aufbruchstimmung bin ich, da ich mich nach dieser intensiven Berufsphase neu erfinden kann. Ich werde mehr Zeit haben für soziale Kontakte und werde mich intensiver in der Natur bewegen und in bisher weggelegte Bücher eintauchen können. Als «digital immigrant» will ich die IT-Welt noch besser kennenlernen und mein Französisch und Englisch auffrischen. Vor allem aber werde ich mehr Zeit für das Familienleben haben, für meine Partnerin und meine zwei Söhne (15 und 18) … und aktiv werden im Haushalt.
Sie haben 2012 an einem Kongress in Luzern über die Zukunft der Gesellschaftspolitik zu einer Überwindung der «Dreitaktung des Lebens (Ausbildung, Erwerbs- und Familienarbeit, Ruhestand)» aufgerufen. Wie stehen Sie heute zu diesem Ziel?
Es gibt Fortschritte, insbesondere in der Aufteilung der Familienarbeit. Viele arbeiten nicht mehr 100%, viele Eltern sind Doppelverdiener. Heute beteiligen sich 82% der Mütter im Arbeitsmarkt, allerdings mit kleineren Pensen. Paare haben zusammen heute ein Erwerbsarbeitspensum von gut 150%. Mütter mit kleinen Kindern unterbrechen oft die Erwerbsarbeit, was Karrieren erschwert und Lücken in den Pensionskassen erzeugt. Die hohe Scheidungsrate deutet auf einen erheblichen Stress in Paarbeziehungen hin.
Sinnvoll und fair wäre es, die Steuern zu «splitten» und das «Dual Earner – dual Carer -Modell» besser umzusetzen, um die Gleichstellung von Mann und Frau durch eine gerechtere Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit zu realisieren. Zudem sollten die Löhne in typischen Frauenberufen steigen und die nicht begründete Differenz zwischen Männer- und Frauenlöhnen sollte endlich aufgehoben werden.
Sind Sie für eine Flexibilisierung des Rentenalters?
Mit 65 fühlen sich einige von der Erwerbsarbeit verbraucht, haben vielleicht Beschwerden und ersehnen einen finanziell abgesicherten Ruhestand. Andere sind in diesem Alter topfit und unternehmungslustig und empfinden den Austritt aus dem Erwerbsleben verfrüht. Hier braucht es intelligente, flexible, gerechte, Personen bezogene Lösungen, so dass man mit 65 ohne finanzielle Engpässe in Rente gehen oder weiterarbeiten kann, je nachdem wozu man Lust, Kraft und Freude hat.
Im selben Kongress haben Sie gesagt: «Generationenpolitik ist Bildungspolitik, weil Humanvermögen im lebenslangen Bildungsprozess aufgebaut und erhalten wird.» Können Sie das erläutern?
Wir alle haben zwei wichtige Ressourcen: Den Kapitalstock und die Bildung. Wie wir alle wissen, haben wir in allen Bereichen eine enorme Beschleunigung. «Bildung» veraltet rasch, deshalb müssen wir in das Humanvermögen mit seinen drei Dimensionen investieren:
- Das Vitalvermögen (Resilienz) befähigt Menschen zu einem konstruktiven Umgang mit den alltäglichen Herausforderungen, Widrigkeiten und Frustrationen.
- Die Soziabilität umfasst den Aufbau von Werthaltungen, Handlungsorientierungen und verlässlichen sozialen Beziehungen für eine erfolgreiche Lebensführung.
- Die Fachkompetenz (Humankapital) befähigt zur Lösung qualifizierter Aufgaben in einer arbeitsteiligen Gesellschaft.
Das Konzept des Humanvermögens dient als Grundlage eines neuen, integralen Bildungsverständnisses. Da die psychischen, emotionalen und sozialen Kom- petenzen sowie das physische und psychische Wohlergehen in der Kindheit aufgebaut werden, spielt die Volksschule eine massgebliche Rolle bei der Förderung des Humanvermögens.
Bildung als Förderung des Humanvermögens zielt auf eine freie Entfaltung und Entwicklung der Persönlichkeit. Dazu gehören
- das Erwerben von Lernkompetenzen, etwa indem man sich in verschiedene Materien hineinarbeitet, dadurch Erkenntnisse gewinnt und sich Fähigkeiten
aneignet, - dialogische und reflexive Auseinandersetzung mit Wissensbeständen,
- lernen zu lernen mit Interesse und Neugier
- selbständiges Denken
Wenn in Schulen die Lehrpersonen als Trainer, Berater und Vorbilder agieren, ist für lebenslanges Lernen eine gute Grundlage gelegt.
Haus der Akademien, Bern. Seit 2015 gemeinsamer Geschäftssitz der SAGW, der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT), der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW), der Stiftung Science et Cité, der Dachorganisation Akademien der Wissenschaften Schweiz. Foto: bs
2017 haben Sie mit Ihrem Team die «Swiss Platform Ageing Society» gegründet. Warum?
Die «Swiss Platform Ageing Society» ist der schweizerische Beitrag zur Umsetzung der «Global Strategy and Action Plan on Ageing and Health» der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Diese Plattform vernetzt heute über 100 Organisationen aus Hochschulen, Verbänden, Stiftungen, Seniorenorganisationen und der Bundesverwaltung. Sie setzt sich für ein Wohlergehen im Alter und der Gesamtgesellschaft ein. Dabei orientieren wir uns an den fünf Handlungsfeldern der WHO-Strategie: 1. Förderung einer differenzierten Reflexion über das Altern; 2. Anpassung des Gesundheitssystems an die Bedürfnisse der Älteren; 3. Entwicklung von langfristigen Betreuungs- und Pflegesystemen; 4. Schaffen von altersfreundlichen Umgebungen; 5. Förderung der alter(n)sbezogenen Messung, des Monitorings und der Forschung. Dieser Aktionsplan läuft bis 2030. Einiges ist bereits in der Umsetzung. So ist der Altersbegriff differenzierter geworden und es wird zwischen kalendarischen, biologischen, sozialen und administrativen Verständnissen des Alterns unterschieden. Fortschritte gibt es im Handlungsfeld der Schaffung von altersfreundlichen Umgebungen, etwa indem auf barrierefreie Wohnungen und Quartiere geachtet wird. Grosser Handlungsbedarf besteht noch in der Entwicklung eines für die Alten angepasstes Gesundheitssystem und der langzeitigen Sorgearbeit zum Wohl aller.
In der Schweizerischen Ärztezeitung plädierten Sie 2019, inspiriert von der WHO-Definition von 2015, für einen ressourcen- statt defizitorientierten Gesundheitsbegriff.
Ja, da wird Gesundheit als dynamischer Prozess definiert, der sich aus den Wechselwirkungen zwischen der Umwelt und den Fähigkeiten, Fertigkeiten, Eigenschaften, Beeinträchtigungen sowie biologisch-physiologischen Bedingungen ergibt und es einem Menschen während seines Lebens erlaubt zu tun und zu sein, was für ihn bedeutsam ist. Dieser Gesundheitsbegriff ist im schweizerischen Gesundheitswesen noch nicht wirklich angekommen. Nietzsche, der ab 11 Jahren unter Kopfschmerzen mit Erbrechen und später unter anderen Krankheiten litt, hat den funktionalen Gesundheitsbegriff der WHO vorweggenommen, wenn er sagt, Gesundheit sei „das Mass der Krankheit, welches es erlaubt, ein befriedigendes Leben zu führen“. Es geht also darum, in einer Zeit eines langen Lebens dafür zu sorgen, dass bei krankheitsbedingten Beeinträchtigungen es weiterhin möglich ist, ein Leben in Würde zu führen. Heute wird viel in die Spitzenmedizin investiert, zu wenig in die Gesundheitsförderung, in die gerontologische Forschung und in die Palliative Care.
Was ist Ihr persönliches Rezept im Blick auf die Endlichkeit des Lebens?
Der Tod ist mir nah gekommen, als vor zwei Jahren mein Vater mit 97 starb. In diesem Jahr starb meine Mutter, 92-jährig. In der Generationenkette bin ich nun der Nächste, der abtritt. Ab und zu sinniere ich, ob 3/4 oder 2/3 meines Leben verflossen sind. Mit Blick auf meine beiden Söhne (15 und 18) staune ich manchmal, wie mein Leben in den letzten Jahren vorbei gerauscht ist. Die Wahrnehmung der Zeit ist für den Menschen sehr unterschiedlich. In einem Satz kann man sagen: Tage können lang sein, die Jahre kurz. Wenn man sich langweilt, hat man das Gefühl von langsam vergehender Zeit, wenn man motiviert und im Flow ist, vergeht die Zeit im Nu.
Ein Rezept ist wohl, bewusst und hellwach in den jeweiligen Lebenssituationen zu sein, sei es beim Beobachten von Ameisen oder beim sich Vertiefen in ein Gespräch oder ein Buch. Kein Multi -Tasking!
Besten Dank für das Gespräch und ALLES GUTE!
Dr. Markus Zürcher (*1961) studierte Schweizer Geschichte, Ökonomie und Soziologie an der Universität Bern und als Visiting Student an der University of Lancaster. Als Hilfsassistent und Assistent war er am Institut für Soziologie an der Universität Bern tätig. 1994 promovierte er unter der Leitung von Prof. C. Honegger in Geschichte. Seit 1995 ist er für die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften tätig, seit 2002 als deren Generalsekretär. Ein Nachdiplomstudium am Institut de hautes études en administration publique (IDHEAP) in Lausanne schloss er 1999 mit dem Master of Public Administration (MPA) ab. 2000–2010 nahm er Lehraufträge für Soziologie und Geschichte der Sozialwissenschaften an den Universitäten Freiburg und Bern wahr. An der PHW Bern unterrichtet er «Wissenschaftliche Methoden». Wissenschaftsgeschichte, Forschungspolitik und New Public Management sind seine Interessensgebiete. (Foto bs)
Links:
- SAGW, Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, Dachorganisation von 62 wissenschaftlichen Fachgesellschaften: https://www.sagw.ch/sagw/
- Plattform Ageing Society: https://ageingsociety.ch/de
- Zürcher, Markus (2023): Fördern statt selektionieren. Plädoyer für eine Volksschule, die das Begabungspotential der Kinder und Jugendlichen ausschöpft (Swiss Academies Communications 18,1): https://zenodo.org/record/7551627
Titelbild: Markus Zürcher in seinem Büro (Foto bs)