StartseiteMagazinGesellschaftSchweiz – Europa: Wie weiter?

Schweiz – Europa: Wie weiter?

Am 29. Juni durfte ich im Rahmen der Gesprächsreihe im Sissacher Kultur-Bistro Cheesmeyer zwei interessante Gäste begrüssen: die Historikerin Elisabeth Joris und den Publizisten Roger de Weck. Beide debattieren seit Jahrzehnten kultiviert und differenziert. Gleichwohl erhielt ich im Vorfeld, nebst viel Zustimmung, auch harsche Kritik für diese Auswahl. Ein konservativer Politiker hielt sie für «einseitig progressiv». Und ein altersradikaler Bankier monierte, Roger de Weck sei mittlerweile so neoliberal. Nun, lassen wir de Weck und Joris selbst zu Wort kommen.

«Nie hatten wir einen so guten Nachbarn wie die Europäische Union (EU), die uns angeblich gängelt». Davon ist Publizist Roger de Weck überzeugt. Obwohl die Schweiz mit der EU real eng verflochten sei, gehe sie mental auf Distanz. Der Spagat zwischen politischem Nationalismus und wirtschaftlichem Internationalismus verspanne unser Land.

Für Roger de Weck ist die EU «eine Erfolgsgeschichte, ein grosser kontinentaler Kompromiss, eine Europäische Eidgenossenschaft». Wie die Schweiz sei die EU voller Konflikte, Fehler und Fehlentwicklungen – und trotzdem bewundernswert. Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs stand eine Neuordnung Europas an. Doch die Schweiz habe sich an der unerlässlichen Neuordnung des eigenen Kontinents nie beteiligen wollen. Sie blieb laut de Weck «der schadenfreudige Zaungast». Deshalb habe sie kein Verhältnis zum wichtigsten Vorhaben in Europa, nämlich der europäischen Einigung. Und die Schweiz habe auch «keine Europapolitik, die diesen Namen verdient». Das müsse sich ändern.

De Weck ist klar für einen EU-Beitritt und trotz allem noch ein wenig zuversichtlich, was eine friedliche Zukunft betrifft. Wir hätten es «mit einem arroganten China, einem revanchistisch-kriegerischen Russland sowie im Westen mit einem mittelfristig unberechenbaren amerikanischen Partner zu tun. Überdies sei Europa «von einem Chaos-Bogen umgeben», der von der Ukraine über den Kaukasus und die Türkei bis in den Nahen Osten und nach Nordafrika reiche. Doch dieser Aussendruck könne mit der Zeit den inneren Zusammenhalt stärken. Stehen die Europäerinnen und Europäer zusammen, dann haben sie nach de Weck, dem Verfasser des Buches über «Die Kraft der Demokratie», eine gute Chance, Krisen wirksam zu befrieden.

«Seit ihren Anfängen», stellte Elisabeth Joris, Autorin zahlreicher «Frauengeschichten», fest, «ist die EU ein zentraler Faktor europäischer Friedenssicherung.» Die von der EU erlassenen Richtlinien hätten zudem «Einfluss auf die Gestaltung der Zukunft weit über Europa hinaus». Sie würden auch bezüglich Menschenrechte und Umwelt auf die globale Verantwortung verweisen. Deshalb erwartet die Historikern, «dass die Schweiz sich als Teil von Europa versteht und sich politisch aktiv einbringen will».

Ein EU-Beitritt könnte laut Joris die Schweiz beispielsweise dazu bewegen, die Quoten von Frauen in führenden Positionen von Unternehmen und im akademischen Bereich zu erhöhen. Druck könnte es ebenso im sozialpolitischen Bereich wie der Altersvorsorge und der Vereinbarkeit von Erwerbs- und Betreuungsarbeit geben. Er trage wohl dazu bei, Genderanliegen aufzuwerten. Ernüchternd seien allerdings diverse Entwicklungen; so etwa der russische Angriffskrieg gegenüber der Ukraine oder der Krieg im Sudan sowie der Erfolg rechtspopulistischer Diskurse in mehreren europäischen Staaten. Sie trüben Joris jahrelange friedenspolitische Zuversicht. «Umso mehr setze ich», bemerkte die Historikerin, «meine Hoffnungen auf den Einfluss der EU.»

Das sind klare Worte, ohne die EU heilig zu sprechen. Ich wies den eingangs erwähnten Politiker darauf hin. Ebenso auf die Cheesmeyer-Homepage. Da sind alle Gespräche abrufbar. Und dem Banker mit dem Neoliberalismus-Vorwurf schrieb ich, was Roger de Weck sonst noch sagte: Ja, Kapitalismus und Kapitalisten entfernten sich nicht nur von der Realwirtschaft, sondern auch von der Realität. Während fast alle Kontrollen der weltweiten Kapitalströme abgeschafft wurden, floss immer mehr Geld in die Spekulation. Und: «Viele Regierungen förderten den Wahnsinn, indem sie die im Kasino erzielten Gewinne nicht länger besteuerten.» Soweit de Wecks Kritik am Neoliberalismus. Und umso wichtiger ist wohl ein soziales, föderales Europa von unten.

Titelbild: Ueli Mäder, Soziologe. Foto: © Christian Jaeggi

Bücherliste:
-Roger de Weck: Die Kraft der Demokratie. Eine Antwort auf die autoritären Reaktionäre. Suhrkamp, Berlin 2020
-Elisabeth Joris: Frauengeschichte(n). Dokumente aus zwei Jahrhunderten zur Situation der Frauen in der Schweiz. Hg mit Heidi Witzig und Anja Suter. Erweiterte Neuausgabe, Limmatverlag, Zürich 2021.
Podcast: Die Gesprächsreihe «Für eine friedliche Zukunft» mit Ueli Mäder und Gästen kann als Podcast abonniert oder auf dieser Website gehört werden.

Das Sissacher Gespräch am 31. August 19 Uhr im Kultur-Bistro Cheesmeyer behandelt das Post-Wachstum und die Frage, wie sich ökologische und soziale Anliegen vereinbaren lassen. Gäste von Ueli Mäder sind: Irmi Seidl (Ökonomin, Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft, ), Evelyn Markoni (Soziologin, Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften, Zollikofen) und Ariane Rufino dos Santos (Musikantin und Gärtnerin).

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1 Kommentar

  1. Die Aussagen und die Sicht auf Europa und die EU von Elisabeth Joris und Roger de Weck teile ich voll und ganz. Einzig stört mich, dass Herr de Weck stets von DER Schweiz spricht, obwohl wir alles andere als ein homogenes Land sind. Das war im Abstimmungsjahr 1992 nicht anders, als der Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR, der nur knapp abgelehnt wude und unsere Regierung, dank der SVP, auf den mühsamen bilateralen Weg gezwungen hat. Wie es nach dem Auslaufen der Verträge mit dem Handel in Europa weiter geht, weiss niemand genau.
    Für mich steht fest, mit unserem bisherigen Neutralitätsverständnis und eigenbrödlerischen Haltung, verbauen wir uns den Weg in ein friedliches und solidarisches Miteinander auf dem europäischen Kontinent, der angesichts der wachsenden Wirtschaftsmächte in Asien immer angreifbarer wird.

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