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Wem gehört das Hochgebirge?

150 Jahre nach Einführung des ZGB ist noch immer nicht klar, wem einzelne Berggipfel, Firne und Geröllhalden gehören. In einem Pilotprozess hat nun das Regionalgericht Berner Oberland 40 Quadratkilometer kulturunfähiges Land der «Bäuertgemeinde Grund Innertkirchen» zugeschlagen.

Man reibt sich die Augen. Eigentum ist seit 1912, seit Inkrafttreten des Zivilgesetzbuches, geregelt. Und trotzdem musste vor einigen Tagen ein erstinstanzliches Gericht entscheiden, wem die Berge, Felsen und Geröllhalden rund um den Gauligletscher gehören. Grund dafür ist die Tatsache, dass die Schweiz noch immer nicht vollständig vermessen ist. Am 31. Dezember 2020 waren 91 Prozent des Landes amtlich erfasst. Vor allem in den Bergkantonen Wallis, Bern und Graubünden besteht noch Handlungsbedarf.

Prozentualer Stand der Einführung des eidgenössischen Grundbuchs in den Kantonen (2021).

Die Vermessung der Berner Alpen und Gletscher zum Zweck eines Grundbucheintrags hat zu Interessenkonflikten zwischen dem Kanton und alpinen Gemeinden geführt. Laut dem Zivilgesetzbuch (ZGB) gilt die Vermutung, dass herrenlose Sachen (dazu zählen auch Immobilien) unter der Hoheit des Kantons stehen, in dessen Gebiet sie sich befinden. «An den öffentlichen Gewässern sowie an dem der Kultur nicht fähigen Lande, wie Felsen und Schutthalden, Firnen und Gletschern, und den daraus entspringenden Quellen besteht – unter Vorbehalt anderweitigen Nachweises – kein Privateigentum,» heisst es in Artikel 664 Abs.2 ZGB.

Die «Bäuertgemeinde Grund Innertkirchen» (eine privatrechtliche Körperschaft kantonalen Rechts) versteht sich seit Jahrhunderten als Eigentümerin verschiedener, im hinteren Urbachtal gelegener Parzellen. Ein entsprechender Gemeindebeschluss von 1865 wurde 1866 vom Berner Regierungsrat amtlich bestätigt. 150 Jahre später vertrat das kantonale Amt für Geoinformation (AGI) 2015 im Rahmen der amtlichen Erstvermessung des Tals die Ansicht, die kulturunfähigen Parzellen (insbesondere das Hochgebirge und die Gletscher) gehörten dem Kanton Bern. Da die Bäuertgemeinde dies bestritt, kam es zu Vergleichsverhandlungen.

Die Gaulihütte vor dem Umbau. Die umstrittenen Parzellen befinden sich im hinteren Urbachtal, rund um die SAC-Hütte.

Als diese scheiterten, liess das AGI den Grenzverlauf entlang der Kulturgrenze im Grundbuch als „streitig“ eintragen. Gegen diese Verfügung klagte die Bäuertgemeinde und verlangte, es sei festzustellen, dass sie die rechtmässige Eigentümerin der fast 40 Quadratkilometer grossen, u.a. den Gauligletscher und –see, einen Teil des Rosenlauigletschers sowie das Hochgebirge umfassenden Parzellen sei. Gelingt ein Eigentumsbeweis, greift Art. 664 ZGB nicht.

Argumente der Parteien vor Gericht

Am 11. Juli 2023 trafen sich die Parteien vor dem Regionalgericht Oberland. Der Rechtsvertreter der Bäuertgemeinde begründete den Eigentumsanspruch mit dem Beschluss von 1865, der in Ziffer 3 die Gesamtgrenzen der Bäuertgemeinde umschreibt (siehe Kasten). Weiter argumentierte er, Privateigentum am Hochgebirge habe im Oberhasli bereits vor Einführung des ZGB bestanden. Die strittigen Parzellen seien im „altrechlichen“ sowie im kantonalen Grundbuch eingetragen worden. Ausserdem legte der Anwalt hundertjährige Pläne vor, die den Eigentumsnachweis unterstreichen sollten.

Das Urbachtal in seiner vollen Schönheit.

Dieser Auslegung widersprach der Rechtsvertreter des Kantons. Er argumentierte, das geltende eidgenössische Grundbuch enthalte keinen Beweis für den Eigentumsanspruch. Auch den vorgelegten Plänen und Triangulationspunkten komme keine Beweiskraft zu. Der Beschluss von 1865 schliesslich sei keine Eigentumsurkunde, sondern ein steuerrechtliches Dokument. Darin seien die Parzellen und Alpen im Oberhasli für den Kanton steuerrechtlich bewertet worden.

Kleine Gemeinde gewinnt gegen grossen Kanton

Am vergangenen Dienstag verkündete Gerichtspräsident Matthias Zurbrügg das Urteil. Er befand, aus dem Grundbuch lasse sich der Eigentumsanspruch der Gemeinde nicht beweisen. Auch den Plänen und Triangulationspunkten sprach er keine Beweiskraft zu. Den subsidiären Beweis mittels des Beschlusses von 1865 erachtete er aber für ausreichend: Die Gesamtgrenzen sowie das Eigentum der Bäuertgemeinde an Alpen, Staffeln und Kuhrechten seien präzise genug beschrieben. Die alte Umschreibung genüge, um das Eigentum „bis zu den geografischen Grenzen der Einwohnergemeinde Innertkirchen, namtlich bis zu den Bergkreten und -gipfeln“ zu beweisen.

Am Regionalgericht Oberland in Thun fand die Verhandung statt. Foto PS.

Die Verfahrenskosten in der Höhe von 23`600 Franken übetrug das Gericht dem Kanton. Bezahlen muss der Kanton der Bäuertgemeinde zudem eine Parteientschädigung von 44`057.75. Gerichtspräsident Zurbrügg begründete die ungewöhnliche Höhe der Entschädigung mit dem ausserordentlich hohen Aufwand der Recherchen und Verfahrensvorbereitungen. Bei der Bemessung ging das Gericht von einem Streitwert von 394`000 Franken aus.

Die Vertreter der Bäuertgemeinde zeigten sich mit der Entscheidung des Regionalgerichts zufrieden. Aufgrund der Brisanz des Pilotprozesses ist damit zu rechnen, dass der Kanton das erstinstanzliche Urteil an das Berner Obergericht weiterziehen wird. Ähnliche Konflikte zwischen Gemeinden und dem Kanton existieren nämlich auch in anderen Tälern des Berner Oberlandes. Um zu obsiegen, muss eine Gemeinde ihren Eigentumsanspruch durch einen direkten Beweis (Grundbucheintrag) oder durch einen subsidiären Beweis (andere „altrechtlich“ gültige Dokumente) beweisen können.

Der Hintergrund des Streits

Weshalb wird nun plötzlich über die Eigentumsrechte am Hochgebirge gestritten? Mit dem Klimawandel verschiebt sich die Grenze zwischen kulturfähigem und kulturunfähigem Land. Das weckt Begehrlichkeiten und erklärt, weshalb das bernische Amt für Geoinformationen neu vermessene Bergflächen nach Verhandlungen mit den betreffenden Gemeinden als Eigentum des Kantons ins eidgenössische Grundbuch eintragen lassen will. Die Debatte im bernischen Grossen Rat, die vor einem Jahr durch eine Gesetzesänderung des Regierungsrats ausgelöst worden war, offenbarte die unterschiedlichen Meinungen.

Mit dem sich ausbreitenden Bergtourismus, den Plänen für Solarparks in den Alpen, der Vergrösserung von Stauseen, der voranschreitenden Gletscherschmelze und der Begrünung der freiwerdenden Moränen sind auch die bisher kulturunfähigen Flächen plötzlich von kommerziellem Interesse. Kanton, gemeinden und Korporationen erheben Anspruch darauf. Die Gemeinden und Alpgenossenschaften wollen Flächen, die ihnen nach «altem» Recht zustehen, nicht kampflos preisgeben. Der Präzedenzfall aus dem Oberhasli ist nicht das letzte Wort. Das Urteil des Regionalgerichts Thun wird politisch und iuristisch neue Debatten und weitere Entscheide nach sich ziehen. Die Diskussion um das kulturunfähige Land ist neu lanciert.

Titelbild. Die Gebirge und Gletscher im Oberen Haslital. Alle Fotos Wikipedia / Pixabay

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