Der Mensch ist bestrebt, ein sinnvolles Leben zu führen. Nach Viktor E. Frankl (1905 – 1997) ist der «Wille zum Sinn» die Grundmotivation des Menschen. Bei der Frage, was sinnvoll ist, scheiden sich die Geister. Im Alter können aufgrund zunehmender Verluste, Beeinträchtigungen, Schmerzen und angesichts des nahenden Todes Sinnlosigkeitsgefühle vermehrt und besonders intensiv auftreten. Was tun? Was empfiehlt die Logotherapie?
Frankl hat in den Dreissigerjahren des letzten Jahrhunderts eine auf die Sinnfrage zentrierte Psychotherapie entwickelt. Er nannte sie «Logotherapie» («Logos» meint «Sinn»). Im Zentrum dieser Therapie stehen die Fragen, was für einen einzelnen Menschen sinnvoll oder wichtig ist, wofür er sich einsetzen soll, wie er den Herausforderungen des Lebens gerecht werden kann, was ihm dazu verhilft, widrigen Umständen «zu trotzen» (Frankl spricht von der «Trotzmacht des Geistes»).
Während seiner mehr als drei Jahre dauernden Internierung in mehreren Konzentrationslagern hat Frankl selber die Wirkkraft seiner Logotherapie erfahren. Seine Überzeugung von der unbedingten Sinnhaftigkeit des Lebens gab ihm die Kraft und den Mut, die menschenunwürdigen Zustände im KZ in Würde zu (er)tragen. Unmittelbar nach seiner Befreiung hat er, 1946, drei Vorträge gehalten, die unter dem Titel «…trotzdem Ja zum Leben sagen» erschienen sind. Darin schildert er auf eindrückliche Weise, wie er das Konzentrationslager erlebt hat und er gibt einen Abriss der Grundzüge seiner Logotherapie.
Gemäss der Logotherapie gibt es im Wesentlichen drei Sinnquellen bzw. drei Wege zum Sinn: 1. Erlebnisse, denen man sich öffnet – Geniessen von Natur und Kultur, Liebeserfahrungen; 2. Taten oder Handlungen – Einwirken auf die Welt, Hingabe an Aufgaben und Mitmenschen; 3. Einstellungen zu unabwendbarem Leid – Akzeptanz und tapferes (Er-)Tragen von Schicksalsschlägen.
In einer Vortragsreihe von 1989 an den Salzburger Hochschulwochen hat Elisabeth Lukas, eine Meisterschülerin von Viktor Frankl «Argumente wider den Pessimismus» vorgetragen und gefragt: Gibt es «Sinn trotz Leid?», «Sinn trotz Schuld?» und «Sinn trotz Tod?» Betrachten wir im Folgenden einige ihrer Kernaussagen!
Sinn trotz Leid?
Elisabeth Lukas unterscheidet zwei Grundformen des Leides: Erstens Leid, das von anderen Menschen ausgeht, «die uns angreifen, demütigen, kränken, übervorteilen, ablehnen.». Zweitens schicksalhaftes Leid, das über uns hereinbricht als Verlust: «der Verlust an Gesundheit, an Kraft, an Sicherheit, an Einkommen, an Angehörigen gar» und das sich als Kranksein, Schwachsein, Hilflosigkeit, Einsamkeit zeigt.
Lukas rät vom Kreisen um die Warum-Frage ab, etwa warum hat er das nur getan, warum bin ich krank geworden usw. Denn bei der Beantwortung von Warum-Fragen seien der Phantasie und Spekulation keine Grenzen gesetzt. Besser sei es, konkrete Antworten auf konkrete Lebensfragen zu geben. Lukas dazu: «Nicht das Fragen ist unsere Sache, sondern das Antworten, nicht das Warum ist relevant für uns, sondern das Deshalb. Das Leben fragt den einen: ‘Deine Tochter ist behindert’. Was tust du jetzt?» und den anderen: … <bs> ‘Du bist krank geworden. Wie stellst du dich dazu ein?’ Die Antwort ist unser. Die Antwort ist frei. Das Warum in letzter Schärfe zu durchschauen, ist uns nicht gegeben, aber das Deshalb in letzter Freiheit zu wählen, ist uns gewährt.» (S.14)
Egal um welches Leid es sich handelt, woher es kommt und wohin es führt: wir haben immer die Möglichkeit und Freiheit, eine sinnvolle Antwort auf ein scheinbar sinnwidriges Schicksal zu geben.
Sinn trotz Schuld?
Schuldig machen wir uns nach Lukas, wenn wir bei anderen Menschen Leid erzeugen, aber auch, wenn wir mit Dingen, Pflanzen, Tieren sinnwidrig umgehen und sie schädigen, wenn wir uns wichtigen Aufgaben verweigern. Schuld ist ein «Sinn-Versäumnis». Dabei geht es nicht um «irrationale Schuldgefühle», sondern um «echte Schuld».
Wer sich schuldig gemacht hat, kann sich nach Lukas auf drei sinnvollen Wegen ent-schuldigen: durch «die Wiedergutmachung an demselben Objekt/Subjekt, an dem man schuldig geworden ist, die Wiedergutmachung an einem anderen Objekt/Subjekt als dem, an dem man schuldig geworden ist, und die Wiedergutmachung durch innere Wandlung, die das irregeleitete Selbst wieder gut macht.» (S.30)
Die gute Nachricht nach Lukas ist, dass trotz begangener Schuld eine sinnorientierte Lebensgestaltung möglich bleibt – auch dann, wenn Wiedergutmachungshandlungen (die beiden ersten Wege) aus irgendwelchen Gründen nicht mehr möglich sind. Der Weg der inneren Wandlung bleibt immer offen, bis ans Lebensende. «Sie kann begangene Schuld tilgen, weil auch sie etwas wieder gut macht: das Selbst des schuldig gewordenen Menschen wird wieder gut … <bs>. Er geht aus der durchlittenen Reue als ein anderer hervor als der, der er war» (S.35).
Sinn trotz Tod?
Ist das Leben angesichts des Todes nicht sinnlos, wenn man die Erlösungserzählungen der Religionen nicht gelten lässt? Lukas lädt uns in Anlehnung an Frankl zu einem Gedankenexperiment ein: «Was geschähe, wenn unser Leben zeitlich unbegrenzt wäre? Wenn es keinen Tod gäbe? Nun, dann könnte man jede Handlung ins Unendliche aufschieben…Einzig die Begrenztheit des Lebens zwingt uns, was immer wir erledigen wollen, zu erledigen, weil wir nie wissen, ob noch Zeit dazu ist; ohne diese Begrenztheit wären wir völlig antriebslos und blockiert. Es stellt sich heraus, dass der Tod der Antrieb zum Leben ist, der Motor, der uns veranlasst, Taten zu setzen.» (S.38). Wir werden demzufolge durch die Endlichkeit des Lebens unter Zeitdruck gesetzt, Taten umzusetzen und der Aufschieberitis nicht zu erliegen.
Aber sind nicht auch die Taten vergänglich? Dazu Lukas: «Alles, was ein Mensch getan hat, was er erlebt hat, was er erlitten hat, bleibt…<bs>. Das Leben verrinnt im Zeitfluss. Aber es verrinnt nicht einfach nur, es gerinnt zur Geschichte, zur Wahrheit, zur Wirklichkeit. Denn die Wirklichkeit, dasjenige, was wirklich ist, ist allemal Geschehenes, Geschaffenes, Durchlebtes.» (S.39)
Lukas fragt weiter: Was zählt von dem, was bleibt? Ihre Antwort: «Was am Ende zählt, ist das Sinnvolle unter dem Verwirklichten, ist das Gute unter dem Gewählten, ist das Schöne unter dem Erlebten, ist das Tapfere unter dem Erlittenen, ist das einer Ewigkeit Würdige» (S.43).
Sinn, eine persönliche Wahl!
Was für den einzelnen Menschen Sinn macht, ist in jeder Lebenssituation neu zu finden. Frankl spricht vom «Augenblickssinn». Und da die Lebenssituationen aufgrund unterschiedlicher Kompetenzen, Präferenzen, Biographien, sozialen Beziehungen, finanziellen Verhältnissen, Handlungsmöglichkeiten usw. persönlich sind, sind auch die Sinnantworten auf die aus der jeweiligen Situation erwachsenden Herausforderungen persönlich. Allgemein akzeptierte und verinnerlichte ethische, politische, kulturelle, ästhetische und spirituelle Werte haben für die persönlichen Handlungsentscheidungen jeweils Orientierungsfunktion.
Logotherapie in der Schweiz
In der Schweiz gibt es ein Institut für Logotherapie und Existenzanalyse in Chur. Seniorweb stellt ein paar Fragen an dessen Leiter, Reto Parpan:
Seniorweb: Wenn eine ältere Person auf der Sinnsuche ist, kann eine logotherapeutische Beratung Unterstützung bieten. Welche?
Reto Parpan: Das Altern bringt verschiedene Änderungen mit sich. Es erfordert Umstellungen und Neuorientierungen im Leben. Mit der Pensionierung geht der Struktur gebende Rahmen der Erwerbstätigkeit verloren. Die mit der beruflichen Arbeitsleistung verknüpften Möglichkeiten der Sinnerfüllung fallen weg. Was nun?
Eine logotherapeutische Beratung kann ältere Menschen, die mit diesen Veränderungen nicht zurande kommen, darin unterstützen, neue Perspektiven zu entwickeln und neue Wege zu einem sinnerfüllten Leben zu finden. Dies geschieht nicht durch Vorgaben des Therapeuten/der Therapeutin, sondern im Dialog auf Augenhöhe: Gemeinsam sollen neue Sinnmöglichkeiten offengelegt werden. Die Ratsuchenden haben dann frei und in Eigenverantwortung zu entscheiden, welche davon sie im Augenblick verwirklichen wollen.
Dr. phil. Reto Parpan, Leiter des Instituts für Logotherapie und Existenzanalyse (Foto bs)
Als Orientierungsraster dienen vor allem die von Frankl aufgezeigten drei Wege zum Sinn: Leisten, Erleben und Ertragen von unabwendbarem Leid.
Die Pensionierung bringt für viele ältere Menschen mit sich, dass ihre Leistung nicht mehr gefragt ist. Sie verlieren somit eine ihrer wichtigsten Sinnquellen. In einer logotherapeutischen Begleitung wird der Fokus auf die im Alter offenen «Erlebniswerte» gerichtet. Dazu gehören beispielsweise die Freude an der Schönheit der Natur oder eines Kunstwerkes, das Wohlergehen in von Liebe getragenen Beziehungen. Diese kommen während des Erwerbslebens oft zu kurz. Im Alter kann ihnen mehr Raum gegeben werden.
Besonders problematisch wird der Übergang ins Pensionsalter für Menschen, die alles auf die Karte Arbeiten/Leisten setzten, die also keine Balance zwischen Arbeiten (Verwirklichung «schöpferischer Werte») und Erleben gefunden haben. Sie drohen beim Ausscheiden aus der Erwerbstätigkeit in ein Sinnvakuum zu fallen. Sie bedürfen der besonderen Unterstützung, um im Alter neue Möglichkeiten einer sinnerfüllten Lebensgestaltung mit Akzent auf «Erlebniswerte» zu finden.
Gibt es auch logotherapeutische Unterstützung im fortgeschrittenen Alter?
Mit fortschreitendem Alter kann es zu Einschränkungen in der Erlebensfähigkeit kommen – etwa durch Beeinträchtigungen (im Extremfall durch den Verlust) des Seh- oder Hörvermögens, durch Bewegungsbehinderungen, durch schwere Krankheiten. Hier geht es um eine Hinführung zur Fähigkeit, dieses unabwendbare Schicksal zu akzeptieren und in Würde zu tragen («Leidensfähigkeit»). Durch Verwirklichung solcher «Einstellungswerte» kann auch dem Leiden Sinn abgerungen werden, z.B., für andere ein Vorbild der Tapferkeit zu sein.
Kann die Logotherapie auch in der Sterbebegleitung eingesetzt werden?
Die Logotherapie bietet auch Hilfestellungen bei der Sterbebegleitung. Menschen, die angesichts ihres nahenden Todes Mühe haben mit der Art, wie sie ihr Leben gelebt haben, die in der Rückschau nur das sehen, was ihnen misslungen ist und dadurch in eine grosse innere Unruhe, womöglich gar in eine Verzweiflung geraten, hilft die Logotherapie durch eine Umlenkung der Aufmerksamkeit auf das Gelungene (auf das sie stolz sein dürfen), auf den Reichtum ihrer Erfahrungen (für den sie dankbar sein können), auf das Wertvolle, das sie in die Welt gesetzt haben, auf das Gute, das sie für andere getan haben, auf das, was ihnen von Mitmenschen geschenkt wurde und was sie selber Mitmenschen geschenkt haben.
Sehr hilfreich und unterstützend ist Frankls Vergleich des Lebens mit einer Scheune. Ihre Tore bleiben bis zum letzten Atemzug offen, um wertvolles Getreide einzufahren. Manche Menschen sehen nur das Stoppelfeld, das die Ernte hinterlassen hat, aber nicht die vollen Scheunen. Wenn sich mit dem Tod die Tore der Scheune schliessen, bleibt alles Gelebte unverlierbar in der Scheune geborgen. Die eingefahrenen Schätze bleiben als Vermächtnis für nachkommende Menschen verfügbar.
Natürlich ist mit dem Getreide auch manches Unkraut in die Lebensscheune geraten. Durch Verzeihen, durch Versöhnung mit Mitmenschen und mit dem eigenen Leben kann aber noch ganz zum Schluss ein wertvoller Ballen eingefahren werden.
Eine in dieser Art positiv gefärbte Rückschau und Lebensbilanz ermöglicht ein ruhiges und würdevolles Abschiednehmen vom Leben.
Mit welchen Kosten hat man bei einer logotherapeutischen Beratung oder Begleitung zu rechnen?
Auf der Website des Instituts für Logotherapie und Existenzanalyse befindet sich eine Liste von logotherapeutischen Psychotherapeutinnen/Psychotherapeuten und Beraterinnen/Beratern. Die Konsultationstarife erfahren Sie von therapierenden und beratenden Logotherapeutinnen und Logotherapeuten direkt.
Welche Texte empfehlen Sie älteren Personen, die im Selbststudium sich den Überlegungen von Viktor E. Frankl und Elisabeth Lukas öffnen wollen?
- Viktor E. Frankl, …trotzdem Ja zum Leben sagen, Penguin Verlag München 2019
- Viktor E. Frankl, Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse, dtv München 2007
- Viktor E. Frankl, Kraft aus der Tiefe. Mit Sinnimpulsen von Inge Patsch, Tyrolia-Verlag Innsbruck 2022
- Elisabeth Lukas (Hrsg.), Mensch sein heisst Sinn finden. Hundert Worte von Viktor E. Frankl, Verlag Neue Stadt München/Zürich/Wien 2005
- Elisabeth Lukas, Der Schlüssel zu einem sinnvollen Leben, Kösel-Verlag München 2011
- Elisabeth Lukas, Sehnsucht nach Sinn. Logotherapeutische Antworten auf existentielle Fragen, Profil Verlag München Wien 2004 (Darin die oben erwähnte Vortragsreihe von 1989 in Salzburg: Argumente wider den Pessimismus.)
- Elisabeth Lukas, Lehrbuch der Logotherapie, Profil Verlag München Wien 2014
- Jörg Riemeyer, Die Logotherapie Viktor Frankls und ihre Weiterentwicklungen, Verlag Hans Huber Bern 2007
- Wolfram Kurz, Sinn suchen, Sinn entdecken, Sinn verwirklichen, Verlag Lebenskunst Tübingen 2020
Machen Sie online oder in grösseren Städten der Schweiz Informationsveranstaltungen zur Logotherapie für interessierte ältere Personen?
Wir bieten mehrmals im Jahr kostenlose online-Kurzeinführungen in die Logotherapie an. Sie richten sich an alle interessierten Personen, sind also nicht spezifisch auf ältere Menschen ausgerichtet. Diese Informationsveranstaltungen geben einen Einblick in das Menschenbild und die Grundzüge sowie Anwendungsmöglichkeiten der Logotherapie von Viktor Frankl. Der nächste Kurs findet am 28. September 2023 von 18:00 bis 19:30 Uhr statt (siehe Website).
Link: Homepage des Instituts für Logotherapie und Existenzanalyse in Chur: https://logotherapie.ch
Dr. phil. Reto Parpan ist seit 2016 Leiter des Instituts für Logotherapie und Existenzanalyse. Nach einem Studium der Philosophie, Psychologie und Soziologie an den Universitäten Leuven und Heidelberg bildete er sich in verschiedenen psychotherapeutischen Richtungen weiter. Vor der Übernahme der Institutsleitung war er Forschungsmitarbeiter am Husserl-Archiv der Universität Leuven, psychologischer Berater am Sozialpsychologischen Zentrum in Eupen (Belgien) und als leitender Klinischer Psychologe an der Psychiatrischen Klinik Beverin (Psychiatrische Dienste Graubünden) mit Schwerpunkt Suchtbehandlung und in der ambulanten Psychotherapie in der Praxis eines niedergelassenen Psychiaters in Chur tätig.
(Titelbild von Gerd Altmann auf Pixabay)
Die nicht endende Suche des Menschen nach dem Sinn des Lebens macht keinen Sinn, weil das Leben ansich und mit der ganzen Natur, zu der der Mensch gehört, sinnhaft ist, einfach nur weil es existiert. Oder würde jemand die Sinnhaftigkeit der Natur in Frage stellen wollen?