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Von Menschen und einer berühmten Linde

In ihrem neuen Roman erzählt Therese Bichsel Geschichten über die 800jährige Linner Linde, über Menschen und deren Schicksale, teils historisch belegt, teils fiktiv. Ein faszinierendes Buch aus der Feder einer ebenso faszinierenden Autorin.

«Schöne Schifferin», «Catherine von Wattenwyl», «Grossfürstin Anna», «Die Walserin», «Überleben am Red River», «Anna Seilerin»: Therese Bichsels Werke sind stets eine Mischung aus historischen Fakten und fiktiven Schilderungen. Letztere bereichern die realen Begebenheiten, machen die Geschichten verständlicher, spannender und erklären Zusammenhänge. Bevor die Autorin mit Schreiben beginnt, recherchiert sie monatelang in Archiven, studiert historische Dokumente, liest alte Briefe. Grossen Wert legt sie auf Faktentreue sowie Originalität, soweit dies in historischen Romanen möglich ist.

All diese Prämissen gelten auch für Bichsels neustes Buch «Unter der Linde». Die Linner Linde (im Aargauer Volksmund «d Lende vo Lenn») ist eine markante Sommerlinde («Tilia platyphyllos»), die in der Nähe des Dorfs Linn auf dem Gemeindebann von Bözberg im Kanton Aargau steht. Der Baum ist sagenumwittert, hat mehrere Brände überlebt, wurde mit Unterstützung des Kantons, der Gemeinde, des Heimatschutzes und privater Gönner wiederholt saniert.

Mit einer Höhe von 25 Metern und einem Stammumfang von elf Metern gilt sie als einer der mächtigsten und ältesten Bäume der Schweiz. Die Legende besagt, dass die Linner Linde zum Gedenken an die Pest von einem der letzten, übriggebliebenen Dorfbewohner gestiftet wurde.

Sieben Schicksale

In ihrem neuen Buch greift Therese Bichsel sieben Schicksale aus verschiedenen Zeitepochen heraus: Magdalena (1349) und Samuel (1668), zwei fiktionale Gestalten, fanden in Pestzeiten Trost unter dem Baum. Die Magd Elsbeth Kehrer, ledig und schwanger, suchte 1708 unter den Ästen Schutz. Hans Jakob Bläuer, eine historisch belegte Person, versammelte 1817 seine Auswanderer unter der Linde. Lehrerin Lili Kohler-Burg lernte dort  1923 ihren Mann, einen Linner Bauern, kennen. Jürg, eine fiktive Person, hilft bei der Baumsanierung 1979 und erzählt von seinen diversen Brüchen im Leben. Die Interlakner Buchhändlerin Susann besucht den Baum in der heutigen Zeit, in der Gegenwart.

Die Linde als Trostort

In der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts wütete in vielen Schweizer Städten die Pest, in Bichsels Romanen immer wieder ein zentrales Thema. Magdalena, die Tochter eines Bauern, besucht den Markt in der Stadt Brugg, wird dort von einem fremden Bänkelsänger angefasst. Der purpurene Rock, Symbol für Sünde, verheisst nichts Gutes. Nach Hause zurückgekehrt, wird Magdalena schwer krank, erholt sich aber wieder. Nach ihr erkranken mehrere Familienmitglieder und Dorfbewohner an der Pest und sterben. Hat die junge Frau die Seuche ins Dorf gebracht? Schnell machen Gerüchte die Runde. Magdalena wird gemieden, diskriminiert, verteufelt. In ihrer Verzweiflung geht sie immer wieder zur Linde, sucht unter den grossen Ästen Trost und begräbt dort ihren roten Rock, den Kittel ihres Mannes, das Hemdchen ihrer Tochter.

In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wütete die Pest erneut, diesmal überwiegend in Dörfern, auf dem Land. In Linn starb die Hälfte der Bevölkerung an den Folgen der Seuche. Samuel, ein junger Lehrer, erlebt das Elend im Dorf, in der Klasse, in der eigenen Familie. Warum gerade er? Unter der Linde sucht er nach Antworten und sieht eine weisse Gestalt. «Man sagt, dass die Linde die Pest bannen kann. Die grosse Linde von Linn kann das ganz sicher. Man müsste nur wissen, wie man vorgeht.»

Die Linde als Zufluchtsort

Unverheiratet schwanger zu werden, war Jahrhunderte lang eine Schande. Elsbeth Kehrer, eine ledige Magd, lässt sich nach ausgelassenem Feiern und Tanz von einem attraktiven Jüngling verführen. Die Schwangerschaft kann sie unter dem breiten Rock verstecken, geheim halten. Im Wald bringt sie ohne fremde Hilfe einen Sohn zur Welt und erstickt das Kind im Geburtsstress sowie aus Scham mit einem Tuch. In ihrem Leid suchte sie Schutz und Zuflucht unter dem Baum: «Linde, dir kann ich mich anvertrauen.» Doch alles nützte nichts. Elsbeth wird verhaftet, vor ein Chorgericht gestellt, gefoltert und zum Tod verurteilt.

Autorin Therese Bichsel sitzt auf dem Wurzelwerk der legendären Linde. Foto ZVG

Die Linde als Abschiedsort

1816 soll ein Jahr ohne Sommer gewesen sein: Der Vulkan Tambora auf der indonesischen Insel Sumbawa war im Jahr zuvor explodiert, und seine Asche verfinsterte den Globus. Die Klimaveränderung war auch in der Schweiz zu spüren: Missernten, Hunger, Seuchen machten sich breit. Tausende von Menschen entschlossen sich zur Auswanderung nach Nordamerika und Kanada. So auch der Jungbauer Hans Jakob Bläuer. Nach aufwändigen Vorbereitungen trifft er sich mit befreundeten Familien und Mitreisenden, insgesamt 58 Personen, im April 1816 unter der Linde zum Abschiednehmen. «Man sitzt unter dem Blätterdach, das viel mehr Licht durchlässt als später im Jahr. Der Boden ist mit Sonnen und Schatten gesprenkelt, die Gesichter ebenso.»

Lehrerin, Baumpfleger und Buchhändlerin

Drei weitere Figuren haben in dem Roman einen engen Bezug zur Linner Linde: Die Rheinfelder Lehrerin Lili Kohler-Burg trifft hier ihren künftigen Mann. Geschickt erzählt Autorin Therese Bichsel die Geschichte und Verdienste der gleichnamigen Pionierinnen der Landfrauen-Bewegung. Als Präsidentin des Schweizerischer Bäuerinnen- und Landfrauenverbands setzte sich diese für staatliche Betriebsberaterinnen sowie den Ausbau der Kindergärten und Kinderkrippen auf dem Land ein.

Das Schicksal des fiktionalen Baumpflegers Jürg ist eng verknüpft mit der schweizerischen Anti-AKW-Bewegung. Nach einem unaufgeklärten Brand der Linner Linde lässt der Baum den jungen Mann nicht mehr los. Seine Lebensgeschichte und das Interesse der Buchhändlerin Susann aus Unterseen, welche die Linde während den Corona-Monaten immer wieder besucht, vereinen sich am Schluss des lesenswerten Romans, der sich hervorragend als Weihnachtsgeschenk eignet.

Sorgfältige Sprache, Faktentreue

Die Berner Schriftstellerin versteht es auch in ihrem neusten Werk, uns anhand von menschlichen Schicksalen historische Fakten in einer leicht lesbaren, sorgfältigen Sprache näher zu bringen und zum Nachdenken anzuregen. Wie klein ist doch der Mensch, wie gross die Natur? Die legendäre Linde auf dem Bözberg überlebt Katastrophen, Kriege, Brände, während wir Erdenbewohnerinnen und -bewohner kommen und gehen. Beim Lesen der abwechslungsreichen Geschichten stellt sich nicht nur einmal die Sinnfrage: «Was sucht der Mensch hier?»

Unter der Linde – Die Linde Linn und ihre Menschen einst und jetzt, Therese Bichsel, Zytglogge, 2023, ISBN: 978-3-7296-5136-4

Titelbild: Die Linner Linde ist von weit her sichtbar und ein vielbesuchter Kraftort. Fotos ZVG

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