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Endlich nüchtern werden

Geschlechterkampf im Gewand vertraulicher Briefe: Regisseurin Yana Ross inszeniert als Uraufführung am Schauspielhaus Zürich den Mail-Brief-Roman «Liebes Arschloch» der französischen Bestseller-Autorin Virginie Despentes.

In „Liebes Arschloch“ der französischen Star-Autorin Virginie Despentes fetzen sich die Schauspielerin Rebecca Latté und der Schriftsteller Oscar Jayack über Reizthemen wie Feminismus, MeToo und soziale Medien – und verfolgen ein grosses gemeinsames Ziel: Endlich nüchtern werden. Der Brief-Roman illustriert auf drastische Art, wie sich zwei Menschen durchs widrige Leben schlagen, wie sie an ihren Beziehungen scheitern, mit den Zumutungen des Älterwerdens hadern, die sozialen Medien verfluchen.

Nicht bissig, eher heiter

Regisseurin Yana Ross liefert mit ihrer 90minütigen Inszenierung auf der Pfauenbühne eine durchaus sehenswerte Adaption der Romanvorlage, nicht bissig und verbohrt, eher heiter und unterhaltsam. Zu Beginn wird Klage geführt. Die junge Zoé, einst Oscars Pressereferentin, bezichtigt Oscar, sie jahrelang verfolgt und missbraucht zu haben, beklagt das jahrhundertalte Unrecht, das Frauen widerfährt. Dann lesen die beiden Protagonisten Rebecca und Oscar, die sich von früher kennen und zu besten Brieffreunden werden, die auf Instagram ausgetauschten Hässlichkeiten vor. Er nennt sie eine «verlebte Schlampe», sie ihn «liebes Arschloch».

In Plüschkostümen: Karin Pfammatter als Rebecca und Matthias Neukirch als Oscar.

Sie ist jenseits der 50 und bekommt kaum noch Rollen und er hat eine Schreibblockade und den durch Zoé inszenierten Shitstorm am Hals. Beide verwandeln sich in wattierte Ungetüme, er mit Penis und einem wurmartigen Plüschgebilde über den breiten Schultern und sie mit voller Brust und ringförmigen Gebilden um die Beine, die beleuchtet einen Einblick ins Innere erlauben (Kostüme: Zane Pihlström). Die allesamt in Orange (die Farbe der Kampagne gegen Gewalt an Frauen) gehaltenen Kostüme markieren ihre Rollen,  die sie nach und nach ablegen werden.

Gegenseitige Öffnung

Es folgt die Zeit der Annäherung, der gegenseitigen Öffnung. Er offenbart ihr seine Alkoholsucht, sie ihm ihre Drogensucht, um schlank zu bleiben. Er hat Probleme mit Frauen, sie bei der Bewältigung einer Vergewaltigung. Beide wollen sich ändern, endlich ein normales Leben führen,  besuchen die Selbsthilfegemeinschaft Narcotics Anonymous. Er entpuppt sich als Jammerlappen, verkriecht sich in das Wurmgebilde, sie dagegen strotzt vor Energie, tanzt, singt, schlägt Purzelbäume, willens, sich zu verändern, zieht den Jammerlappen Oscar aus dem Versteck und sagt: «Du benimmst dich wie ein gewöhnliches Arschloch».

Versuch der Annäherung: im Vordergrund Karin Pfammatter und Matthias Neukirch, im Hintergrund die Musikerin Magda Drozd am Flügel. Fotos: Gina Folly

Zoé leidet unter dem MeToo-Skandal, den sie entfacht hat, landet in der Psychiatrie. Wieder draussen, sinniert sie zum Schluss auf leerer Bühne über die grossmütige Haltung der Frauen, zählt auf, was die Männer alles nicht erdulden müssen. Ein eindrücklicher Abgesang über den Machtmissbrauch der Männer. Magda Drozd, die Zoé verkörpert, sorgt gleichzeitig für leise und laute Begleitmusik an diesem Abend.

Die Aufführung lebt vorab vom Schauspiel der beiden Hauptdarsteller Matthias Neukirch und Karin Pfammatter. Grossartig, wie sie die ziemlich drastischen und witzigen Tiraden von Oscar und Rebecca spielen, Menschen in ihrer Komplexität variieren, eigene Verletzungen und Demütigungen zu erkennen geben. Sie mühen sich redlich ab, dem bissigen Mail-Verkehr mit viel Körpereinsatz und zahlreichen Kostümwechseln eine gleichsam unterhaltsame und nachdenkliche Kontur zu verleihen. Dafür gabs am Premierenabend respektablen Applaus.

Weitere Spieldaten: 29. November, 5., 8., 9., 10., 13., 19., 28. Dezember

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