Fleisch antragen

Als ich ein Kind war, musste manchmal notfallmässig ein Nutztier geschlachtet werden auf unserem Hof. Ein Rind, ein Kalb, ein Schwein, selten eine Kuh. Was heute kaum mehr vorstellbar ist: Der Kundenmetzger kam, brachte seinen Bolzenschussapparat, seine Messer, Schaber und andere Instrumente mit und machte sich an die Arbeit. Vater und Mutter halfen ihm dabei. Einmal begegnete ich meiner Mutter, die mit einem Eimer, gefüllt mit Blut, über den Hof lief. Seither versteckte ich mich, wenn der Metzger auftauchte. War das Tier kein Tier mehr, sondern nur noch Fleisch, das zerstückelt und zerkleinert auf einem Tuch aufgereiht war, kam der Fleischschauer.

Gab er das Fleisch frei, kamen meine Schwester und ich zum Einsatz. Wir mussten Fleisch antragen, was bedeutete: Wir hatten von Haus zu Haus zu gehen, ausgerüstet mit einem alten Schulheft, in dem sich noch ein paar leere Seiten befanden und einem Bleistift. Wir klingelten oder klopften an die Haustür, wenn es keine Klingel gab. Bevor jemand öffnete, zischte mir meine um drei Jahre ältere Schwester stets zu: Du redsch, klar? Ich nickte, meine Schwester war schüchtern, ich auch, aber anders schüchtern, was nicht heisst, dass mir das Fleischantragen nicht äusserst unangenehm war. Ich sagte stets dasselbe, wenn schliesslich die Hausfrauen des Dorfes die Türe öffneten: Guten Tag Frau Müller, wir mussten ein Kalb notschlachten und wollen nun fragen, ob Sie uns auch etwas vom Fleisch abnehmen? Waren es Bäuerinnen, an die ich die Frage richtete, sagen sie sofort ja, wohlwissend, dass sie mit Sicherheit irgendwann in die gleiche Lage kommen und ihrerseits froh sein würden, Abnehmer für das viele Fleisch zu finden. Leider nein, sagten die Kaninchenzüchterfrauen, denn ihr gemietetes Gefrierfach bei der landwirtschaftlichen Genossenschaft quoll wohl fast über mit Kaninchenfleisch und Gemüse, das sie auf ihren kleinen Äckern zogen.

Gewöhnliche Hausfrauen, deren Männer Maler, Wagner, Sägerei- oder Fabrikarbeiter waren, zögerten meistens, erkundigten sich im Detail nach den Preisen, einige sagten: Kommt später wieder, wenn mein Mann zuhause ist, ich muss ihn zuerst fragen. Andere wanden sich lange, bevor sie verlegen ablehnten und uns auf das nächste Mal vertrösteten, von dem wir hofften, dass es in weiter Ferne liegen würde. Rundwegs nein sagte selten eine. Die meisten hatten Mitleid mit den zwei Kindern, die mit Kalb, Kuh- oder Schweinefleisch hausierten, oder sie wollten nicht, dass offenkundig wurde, dass ihr Haushaltsgeld hinten und vorne nicht reichte und sie sich keine unvorhergesehenen Ausgaben leisten konnten. Oft bestellten sie nach langem Werweissen zwei, drei Würste oder ein Stück Leber, die war billig, wenn sie vom Schwein stammte, die Kalbsleber mussten wir nie antragen, die ging direkt ins Restaurant unserer Tanten.

Bild: Samantha Ramer

Nach einer Bestellung streckte meine Schwester den Frauen das alte Schulheft und den Bleistift entgegen. Die meisten sagten: Schreib es selbst hinein, ich habe grad schmutzige Hände. Meine Schwester reichte mir das Heft, weil sie fürchtete, Schreibfehler zu machen, was vollkommen egal gewesen war, ich machte auch welche, Hauptsache, wir wurden das Fleisch los. Ich brauchte nur die zuhause vorbereiteten Kolonnen auszufüllen, die überschrieben waren mit ‘Name’, ‘wieviel’, ‘was’. Ich schrieb also zum Beispiel: Frau Müller. Drei Kilogramm. Voressen und Braten. Zum Schluss musste jede Frau ihre Bestellung eigenhändig unterschreiben, und waren es bloss zwei Leberwürste, das hatte uns Vater eingeschärft.

Hatten wir die Runde beendet, überprüfte die Mutter zuhause das Heft. War zu wenig oder nur von den guten Stücken bestellt worden, schickte sie uns nochmals los. Wir klopften dort an, wo jetzt die Männer zuhause waren, dort, wo uns niemand geöffnet hatte, wir klopften auf weit entlegenen Höfen an, irgendwann kehrten wir müde zurück und es roch nun im ganzen Haus nach Fleisch.

Warum mir dieses längst vergangene und verhasste Fleischantragen wieder einfällt, bei dem ich genau spürte, dass wir uns damit aufdrängen bei den Leuten und manche sich genötigt fühlten, etwas zu bestellen? Weil mich dieses Fleischantragen-Gefühl oft wieder einholt. Wer Bücher schreibt, möchte gelesen werden. Möchte, dass die Bücher unter die Leute kommen, dass sie gekauft werden. Zum Beispiel an Veranstaltungen, an Lesungen, Festivals usw. Ein Glück, wenn man dazu eingeladen wird, wenn nicht, soll man sich darum bemühen, sich sozusagen antragen? Wirkt das nicht aufdringlich? Ist man eingeladen, erneut zögern und zaudern: Soll ich? Oder besser nicht? Soll ich die Werbe-Mail für die Lesung losschicken oder sie besser gleich löschen? Den Beitrag dazu auf den sozialen Medien posten oder ihn verwerfen? Wirkt das alles möglicherweise aufdringlich, ist gar eine Zumutung? Andererseits: Unterlasse ich das Mailing, poste ich nichts und füge kein Foto dazu, kommt vielleicht niemand. Was wiederum peinlich ist. Peinlich für die Veranstaltenden, peinlich vor allem für mich, denn ich erfülle die Erwartungen nicht. Der Markt ist schwierig, die Konkurrenz gross, das wissen alle, Bücher zu schreiben ist das eine, sie zu Markte zu tragen das andere. Junge Autorinnen und Autoren mischen virtuoser und unbekümmerter auf allen möglichen Marktplätzen mit als ältere. Und, offen gestanden, hätte nun ich gerne eine jüngere Schwester an meiner Seite, zu der ich sagen könnte: Du redsch, klar?

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