Leben, Lieben, Sterben. Ankommen, Bleiben, Abreisen. Das sind die Themen der Literatur. In unendlichen Versionen und Variationen erzählten und erzählen Schriftstellerinnen und Schriftsteller Geschichten dazu in unzähligen Büchern, Kapiteln und Unterkapiteln. Und meist hat alles mit allem zu tun, spielt sich doch selbst in den Büchern fiktives Leben nicht schön übersichtlich geordnet eins nach dem andern in Kapiteln und Unterkapiteln ab, obwohl es doch die Redensart gibt: Das ist ein anderes Kapitel.
Die Themen „Leben Lieben Sterben“ eröffnen ein weites Spielfeld. Dazu kommen abgesteckte Parzellen wie Arbeiten, Spielen, Träumen, wobei Arbeiten weniger, Spielen und Träumen mit zunehmendem Alter hoffentlich immer mehr werden. Kämpfen? Wogegen? Gegen das Rasen der Zeit, gegen ihr Sausen und Tosen, schon wieder Mittag, schon wieder Abend, schon wieder übermorgen und vorgestern und schon wieder April in einem Jahr, das wir doch, kommt mir vor, eben erst begonnen haben.
Wie gesagt, alles hat mit allem zu tun, wir springen vor und zurück, hin und her, manchmal bewusst, manchmal unbewusst, weil unsere Gedanken tun, was sie wollen. Bilder tauchen auf, plötzlich haben wir eines vor Augen, sind erstaunt darüber und wissen kaum noch, woher es stammt. Vielleicht aus einem Buch?
Bild: Theres Roth-Hunkeler
Lesen ist permanente Bilderproduktion. Wenn in einem Buch ein Haus beschrieben wird – es reicht schon, wenn es nur skizziert wird – so sehen wir dieses Haus vor uns. Es wird von Figuren bewohnt. Sie tragen Namen wie Gloria und Moni, wie Alice, Romy oder Sven. Oder sie tragen keine Namen. Wir sehen die Figuren dennoch vor uns. Vielleicht ähneln sie einer Freundin oder einem Verwandten oder niemandem. Aber wir wandern mit ihnen durchs Buch, vielleicht träumen wir sogar von ihnen. Wie kann man eigentlich von jemandem träumen, den man nur vor dem inneren Auge gesehen hat, nie in echt, den man kennt und doch nicht kennt, den es eigentlich gar nicht gibt im realen Leben, sondern nur in unserer Vorstellung? Aber was ist mit Alice im Wunderland, mit Rumpelstilz, Max und Moritz, Miss Marple, Madame Bovary und Stiller? Es gibt sie doch, sie leben doch unter uns, und wovon handeln die Geschichten, die sie bevölkern? Eben!
Jede Reise endet irgendwann daheim oder mündet bald wieder in einer nächsten Reise. Oft denke ich darüber nach, weshalb es Menschen gibt, die sich während einer Reise auf das Heimkehren freuen und solche, die am liebsten gar nicht mehr nach Hause möchten. Zu welchem Typ gehören Sie? Und wo eigentlich enden Phantasiereisen? Wenn man ein Buch zuklappt, ist die Kopfreise oft noch nicht zu Ende. Selbst wenn die Hauptfigur am Ende stirbt, geistert sie vielleicht noch eine ganze Weile in unserem Kopf herum. Im Buch jedenfalls lebt sie bestimmt weiter, mehr noch, sie entsteht mit jeder Leserin – es gibt erwiesenermassen sehr viel mehr Leserinnen als Leser, deshalb hier die Verneigung vor den Leserinnen – immer wieder neu in einer anderen Version, lebt anders, stirbt anders. Alle echten Lesenden arbeiten auf ihre je eigene Weise mit am Buch, das sie in den Händen halten und machen in dem Sinne tatsächlich lauter andere Kapitel.