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Messies leiden im selbstgeschaffenen Chaos

Messies, Leute, die nichts wegwerfen können, sind keine willenlosen Schwächlinge, sondern brauchen Unterstützung. Esther Schippert hilft und berät Menschen, die dem Chaos entrinnen wollen. Wir ergänzen das Interview mit Beispielen.

In der Schweiz leben rund rund 180 000 Messies, mehr als zwei Prozent der Bevölkerung unseres Landes gehören dazu. Wir müssen davon ausgehen, dass auch Seniorweb-Leserinnen und -Leser darunter sind. Die Schätzungen sind schwierig, Statistiken fehlen. Der Ausdruck wird aus dem Englischen abgeleitet, mess, gleich Chaos. Betroffene sammeln Joghurtbecher, Zeitungen, Elektroschrott. Ihr Alltag wird durch Chaos und Desorganisation bestimmt. In Ihrer Wohnung finden sie kaum Platz zum Leben.


Esther Schippert ist diplomierter Stress- und Resilienz-Coach. Sie hat Berufserfahrungen gesammelt bei der Spitex, in Altersheimen und in den Stadtzürcher Schulen.

„Wegräumen allein hilft nicht“

Zuerst den Müll und die schmutzigen Nastücher wegräumen, dann die Verpackungen. „Vom Groben zum Feinen“, beschreibt Esther Schippert ihre Methode.

Seniorweb: Esther Schippert, wie und warum werden Menschen zu Messies?
Esther Schippert:
Ein Messie-Syndrom ist wie ein Eisberg. Das meiste ist verborgen. Die Wissenschaft ordnet es als Krankheit ein und bezeichnet es als pathologisches Horten.

Die Ursachen?
Sie sind vielschichtig.Es kann ein Sammelzwang dahinter stecken, ein Schicksalsschlag, ein Trauma, Demenz oder eine Depression.

Die Therapie? 


Zuerst: Wegräumen hilft nicht. Ich stelle keine Diagnosen, sondern helfe, die Symptome zu lindern oder zu beseitigen.

Wie packen Sie das an?
Ich verschaffe mir als erstes einen Überblick. Dann arbeite ich mich stufenweise vom Groben ins Feine vor. Zum Beispiel indem ich als erstes den Abfall wegräume und die schmutzigen Nastücher, dann etwa die Verpackungen. Gerade durch den Versandhandel können sich da Berge anhäufen. Anschliessend geht es darum, die Räume wieder bewohnbar zu machen, zum Beispiel das Schlafzimmer und die Küche.

Sind die Betroffenen dabei?
Ja, das ist wichtig. Ich erfahre dabei oft ihre Lebensgeschichte, ihre Probleme . Ich versuche, Vertrauen aufzubauen und vermeide es, zu werten. Unordnung weist häufig auf Stress hin. Ich verstehe mich als Coach,

Bei anderen Entzügen sind häufig mehrere Anläufe nötig. Auch bei Messies?
Ja, manchmal muss ich zwei- oder dreimal helfen. Es gibt bei mir aktuell auch Langzeitbetreuung die über mehrere Jahre dauert

Richten wir den Fokus auf die Angehörigen. Was raten Sie ihnen?
Sie brauchen viel Geduld und müssen damit rechnen, dass die Betroffenen nicht einsichtig und unmotiviert sind oder dass sie sich widersetzen. Wichtig ist es, mit kleinen Schritten zu beginnen.

Bockige Messies, das tönt nach Überforderung.
Angehörige sollten und können professionelle Hilfe beanspruchen und achtsam mit sich selber sein, Stichwort Selbstfürsorge.

Reden wir übers Geld.
Das Messie-Syndrom wird zwar als Krankheit anerkannt. Die Kassen zahlen allerdings nichts. Ich verrechne meinen Aufwand meistens pauschal. Das variiert je nach Situation. Einzelne Stunden-Einsätze sind eher selten. Das Messie-Syndrom ist in allen Gesellschaftsschichten vertreten. Die finanziell gut Gestellten sind halt nicht so präsent in den Medien. Klienten ohne den nötigen finanziellen Hintergrund können sich an Stiftungen oder Institutionen wenden, Pro Senectute zum Beispiel. In den meisten Fällen kümmern sich Sozialdienste oder Beistände um den Kontakt zu Stiftungen.

Sie unterstützen auch das Fachpersonal von Heimen.
Durch die gestiegene Lebenserwartung belasten Messie-Probleme zusehends auch die Heime. Ich versuche, den Fachleuten einen entspannten Umgang mit den Betroffenen zu vermitteln. Um dies zu erreichen, arbeite ich mit Fallbesprechungen, Workshops und Beratungen.

Können Selbsthilfegruppen Messies unterstützen?
Ja, der von mir gegründete Messie-Verein etwa. Er hilft, dass sich Betroffene und Angehörige austauschen. Ausserdem ermöglicht der Verein über Crowdfounding finanzielle Mittel zu beschaffen.


Mal zu wenig, mal zu viel Elternhaus

Depressionen, ein Schicksalsschlag, eine gescheiterte Beziehung: zum Messie wird man nicht aus heiterem Himmel.

Beispiel 1: Sie schämte sich, weil sie den Sohn ins Heim geben musste. Rosmarie Neumann (alle Namen geändert) wuchs in einer gutsituierten Familie in Deutschland auf. Der Vater fiel im Krieg. Rosmarie und ihre Mutter kamen zu Verwandten in die Schweiz. Der alleinerziehenden Mutter gelang es nicht, für sich und ihre Tochter geordnete Verhältnisse zu schaffen. Mit 12 kam Rosmarie in ein Heim. Später, knapp volljährig, gebar sie Rudolf. Der heute 72-jährige Ruedi berichtet, wie seine Mutter zum Messie wurde. Sie habe sich wohl geschämt, weil sie sich für seine Heimkarriere verantwortlich gefühlt habe. Ihr unstetes Leben habe vermutlich dazu geführt, dass ihr die Abfallberge über den Kopf wuchsen, ahnt der Sohn.

Ruedi bot der Mutter mehrmals Hilfe beim Entsorgen an. Sie lehnte ab. Als sie starb, kam bei der Räumung tonnenweise Müll zum Vorschein. „Sie sammelte Verpackungen, leere Konservendosen, alte Billette, Lebensmittel, jedes Papierchen“, so Ruedi, „ich grub mich durch ihre Vergangenheit.“

Beispiel 2: Manfred wuchs in einer pingelig geordneten Wohnung auf. Messie-Wohnungen mögen sich gleichen. In der Unterkunft von Manfred fällt das viele Papier auf. Neben Zeitungen bis zur Decke hat der Bewohner von hunderten, ja tausenden Zeitschriften nur die erste Seite abgetrennt und bewahrt sie in hohen Stössen auf. Manfred ist belesen, hat ein Architektur-Studium abgebrochen. Er lebt in seiner dritten vollgestopften Wohnung. die beiden vorherigen hat er verloren. Einmal weil sie aufwändig saniert wurde, einmal weil ihn der Vermieter vor die Tür stellte.

Manfred wuchs in einer pingelig aufgeräumten Wohnung auf, mit einer Mutter, die sein Zimmer hinter seinem Rücken bis ins kleinste Detail aufräumte. Sogar die harmlosen Liebesbriefe des Teenagers landeten im Abfall. Möglicherweise als Reaktion fiel es dem jungen Mann mit eigener Wohnung später schwer, irgendwas wegzuwerfen.


Hilfe für Betroffene

Unter dem Titel Ordnungs-Training vermittelt Esther Schippert ein breites Angebot. Ausserdem ist sie Präsidentin des Messie-Vereins.
ordnungs-training.ch
messie-verein.ch

LessMess versteht sich als Netzwerk für Messies. Mitglieder des Vereins sind Betroffene, Angehörige, Interessierte und Fachpersonen. LessMess orientiert über professionelle Angebote und Selbsthilfegruppen.
lessmess.ch

Home-Management ist eine Institution, die sich dem Namen entsprechend um Hauswirtschaft kümmert. Zum Angebot gehören auch Personalvermittlung und Unterstützung für Messies und Angehörige.
homemanagement.ch

Ausserdem gibt es mehrere Firmen, die Messie-Hilfen anbieten. Oft sind es Reinigungs-, Transport- oder Entsorgungs-Unternehmen, die diese Unterstützung bloss für ihre Werbung benützen. Hilfesuchende sollten solche Angebote gut überprüfen.

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