Die schweizerische Gesundheitsversorgung ist hervorragend, der medizinische Fortschritt stetig. Die personalisierte Medizin, welche sich auf den einzelnen Patienten ausrichtet und immer grössere Erfolge erzielt, rückt immer stärker in den Vordergrund. Die medizinische Versorgung ist aber überdimensioniert, die Spitallandschaft zu dicht. Das hat seinen Preis: 91 Milliarden im Jahr. Werden die beiden Initiativen, die am 9. Juni zur Abstimmung gelangen, den medizinischen Fortschritt fördern oder stoppen, die Kosten bremsen oder gar erhöhen, den Bundeshaushalt, die Rechnungen der Kantone derart belasten, dass Steuererhöhungen unumgänglich sind? Nun liegt es vor, das Abstimmungsbüchlein. Gibt es Antworten auf die Fragen? Wird die Entlastungs-Initiative, welche die Prämien der Krankenkassen auf 10% des verfügbaren Einkommens beschränken will, belasten oder entlasten und vor allem: wen und um wie viel? Und wird die Kostenbremse-Initiative, welche die Dienstleister im Gesundheitswesen verpflichten will, die Kosten nicht weiter ansteigen zu lassen, ihre von den Initianten gewünschte Wirkung erzielen?
Beugt man sich über die Erläuterungen im Abstimmungsbüchlein, so ist man so klug wie zuvor. Immer noch wird nicht klar, was die Initiativen bewirken, welche Kosten sie tatsächlich verursachen werden, wer entlastet, wer belastet wird. An einem Wort in diesen wortreichen Erläuterungen lässt sich diese Ungewissheit festmachen. Der Bundesrat schreibt bei der Prämien-Entlastungs-Initiative, dass die Mehrkosten «erheblich» seien. In den Medien wird wortreich darüber spekuliert, was das bedeutet. Je nach Interessenslage geben die Protagonisten Mehrkosten in den Höhen von 2 bis sage und schreibe 12 Milliarden Franken an. Das Bundesamt für Gesundheitswesen rechnet mit etwa 3,5 Milliarden. Die Jungfreisinnigen stellen die Grafik der Kosten im Vergleich zu der entsprechenden Lohnentwicklung, wie sie im Büchlein bei der Kostenbremse dargestellt ist, in Frage, legen gar eine Beschwerde ein. Die Initianten kontern. Es seien nicht nur Prämien und Löhne in Beziehung zu setzen, sondern auch die hohen Mieten, die Lebenskosten einzubeziehen. Frage: Wem soll man glauben, wer trickst, wer versucht mit möglichst hohen Prognosen der Kosten zu untermauern, dass nur ein Nein oder eben nur ein Ja in Frage kommt? Oder ganz andersherum: Wird der Mittelstand tatsächlich echt entlastet, wie es die Initianten darlegen, oder geht es ihm bestens, muss er allenfalls künftig mit höheren Steuern rechnen, wie die Gegner zu wissen meinen? Die NZZ kommt in einer umfassenden «Analyse» jedenfalls zum Schluss: «Der Mittelstand ist im internationalen Vergleich enorm kaufkräftig und erfreut sich einer hohen Lebenszufriedenheit.»
Ist also alles Paletti? Der Urnengang völlig überfüssig? Mitnichten. Störend ist die Ungewissheit. Die rührt daher, weil die Darlegungen über die Auswirkungen völlig ungenügend, die Fakten zu wenig erhärtet sind. Verantwortlich dafür ist in erster Linie das Parlament, welches diese offensichtliche Lücke nicht zu füllen in der Lage oder willens war. Es hätte die Grundlagen zu schaffen gehabt, so dass aufgrund einer eindeutigen Ausgangslage das Volk hätte entscheiden können. Das Parlament ist aber nicht allein schuldig. Schon lange müsste es doch im Zeitalter der Digitalisierung, verbunden mit den Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz KI, möglich sein, dass ein vollständiger Datenaustausch, mehr noch, eine Datenaufbereitung zwischen den Kantonen und dem Bund bestünde. Auch, dass die Kantone ihre Daten wirklich umfassend liefern würden, vor allem auch die Steuerdaten. Gerade die Steuerdaten würden eine wichtige Grundlage liefern, wer von der 10%-Initiative profitieren, wieviel sie den Bund, die Kantone kosten würde.
Je grösser die Ungewissheit über die Auswirkungen der Initiativen ist, umso kleiner ist wohl die Bereitschaft, notwendige Reformen zu wagen. Dennoch: Wie die Abstimmungen am 9. Juni auch ausgehen werden, gehandelt werden muss so oder so. Eigentlich ist vieles bekannt, was zu tun und auf was zu reagieren wäre. Einmal auf den medizinischen Fortschritt. Die personalisierte Medizin schreitet voran, zeitigt immer bessere Resultate. Ein Darmkrebs beispielsweise ist nicht ein Darmkrebs, er kann je nach Person völlig unterschiedlich sein und muss völlig unterschiedlich behandelt werden. Das setzt hohe, gebündelte Kompetenzen voraus. Dazu sind bestehende Kompetenzzentren (Uni-Spitäler) auszubauen, viele regionale Kliniken auf ihre Kompetenzen zu beschränken. Insgesamt ist die Spitallandschaft Schweiz markant auszudünnen. Die schweizerische Unfallversicherung Suva setzt stark auf Prävention, die Krankenkassen könnten davon einiges lernen: statt eine restriktive Vergabe-Politik zu betreiben, beispielweise bei Rehabilitationen, hätten sie ebenfalls auf Prävention zu setzen. Die Schweizer Pharmaindustrie wäre daran zu erinnern, dass sie gerade im Heimmarkt nicht von überhöhten Sonderpreisen übermässig zu profitieren hat. Zu überlegen wäre, ob nicht die Kinder künftig von den Prämien zu befreien wären. Das würde, was sich alle wünschen, die Familien tatsächlich entlasten. Dies käme sogar dem Mittelstand zugute. Und die dafür entstehenden Kosten würden im Riesenberg von 91 Milliarden Franken beinahe untergehen. Das dürfte wohl solidarisch zu verkraften sein.
Und wenn nach dem 9. Juni – so oder so – nicht gehandelt wird, könnte sich durchsetzen, was für die Krankenkassen das AUS bedeuten würde, was für viele Gesundheitspolitiker von Übel wäre: eine Einheitskasse und statt Kopfprämien Prämien nach Einkommen gestaffelt und festgelegt.