Peter Iczkovitz (81), ein in Zürich lebender Jude, hat 1945 das KZ Bergen-Belsen als Kleinkind überlebt. Seine Erinnerungen schrieb die Historikerin Katrin Schregenberger auf und ergänzte die ungewöhnliche Biografie durch umfassende Recherchen in Schweizer Archiven. «Rettung vom Totenwagen»: Ein bemerkenswertes Buch über eine aussergewöhnliche Familiengeschichte.
Als Judenretter sind hierzulande Oskar Schindler, Carl Lutz oder Paul Grüninger bekannt und ausgezeichnet worden. Der Name Rudolf Kasztner befindet sich nicht darunter. Nun hat die Historikerin und Journalistin Katrin Schregenberger ein wichtiges Buch über ein von Kasztner gerettetes jüdisches Kleinkind geschrieben und damit dem ungarisch-israelischen Judenretter posthum die späte, aber verdiente Ehre erwiesen.
Rudolf Kasztner war ein ungarischer Zionist und Journalist. Sein Name ist eng mit dem nach ihm benannten Kasztner-Transport verbunden, der am Ende des Zweiten Weltkriegs 1670 freigekaufte Juden aus dem KZ Bergen-Belsen in die sichere Schweiz brachte. Chefvermittler und Organisator der geheimen Aktion war Rudolf Kasztner, dessen Leben von der Buchautorin mit Jahreszahlen und historischen Referenzen detailliert gewürdigt wird.
Engagierte Persönlichkeit mit Mut
Wie kam es zu der Rettungsaktion? 1940 war Kasztner aus seiner Heimatstadt Klausenburg nach Budapest gezogen. Von 1941 bis 1945 leitete er dort das jüdische «Komitee für Hilfe und Rettung». Dieses half jüdischen Flüchtlingen bereits vor der Besetzung Ungarns, heimlich aus der Slowakei und Polen nach Ungarn zu fliehen. Aufgrund von Berichten zweier slowakischer Juden, denen die Flucht aus Auschwitz-Birkenau gelungen war, wusste Kasztner bereit Mitte April 1944 von der systematischen Ermordung tausender Juden in deutschen Konzentrationslagern.
Geheimverhandlungen mit den Nazis
Ab Frühling 1944 plante und organisierte der Journalist in Verhandlungen mit den Nazis die Rettung ungarischer Juden. Sie sollten freigekauft sowie per Zug nach Spanien und von dort aus nach Palästina gebracht werden. Kasztner wählte ungarische Rabbiner, Professoren, Opernsänger, zionistische Führer, aber auch Krankenschwestern aus. 252 Kinder, 388 Juden aus seiner Heimatstadt, darunter seine eigene Familie und viele seiner Verwandten waren unter den Auserwählten. Statt nach Spanien fuhr der Zug mit rund 1700 Insassen allerdings ins KZ Bergen-Belsen. Adolf Eichmann liess die getäuschten Juden als Geiseln monatelang festhalten. Mehrere starben im KZ.
Kasztner Bericht (1942-1945), Originaldokument, in der Sammlung des Jüdischen Museums der Schweiz. Foto Elwira Spychalska / Wikipedia
Im Juli 1944 erhielt der SS-Offizier Kurt Becher von Heinrich Himmler den Auftrag, mit Kasztner weiter zu verhandeln. Als Zielland kam neu die neutrale Schweiz in Frage. Deshalb wurden auch Vertreter jüdischer Hilfsorganisation in der Schweiz kontaktiert, die Geld sammelten. Adolf Eichmann persönlich legte den Preis auf 1000 Franken pro Person fest. Im August 1944 kamen die ersten 318 Juden in unserem Land an.
Am 6. Dezember 1944 gab Eichmann für die in Bergen-Belsen festsitzenden Geiseln endgültig grünes Licht zur Ausreise in die Schweiz. Mitte Dezember erreichten 1670 Juden St. Gallen und wurden von dort aus auf die ganze Schweiz verteilt. Gleichzeitig starben in den Gaskammern Auschwitz› 437’000 der rund 800’000 ursprünglich in Ungarn lebenden Juden.
Rudolf Kasztner während einer Radiosendung für das israelische Radio, wo er in den fünfziger Jahren Sendungen auf Ungarisch produzierte. Foto Wikipedia.
Im Winter 1944/1945 kehrte Kasztner noch einmal nach Deutschland zurück und fuhr mit Kurt Becher, der am 1. Januar 1945 zum SS-Standartenführer ernannt worden war, nach Berlin, um ein letztes Mal den Versuch zu unternehmen, weitere Juden aus Konzentrationslagern zu retten. Möglicherweise trug seine Intervention dazu bei, dass die Verwaltung des KZ Bergen-Belsen zum Kriegsschluss die dortigen Häftlinge vor dem Tod verschonte und sie bei der Kapitulation lebend den Briten übergab.
Auswanderung nach und Prozess in Israel
Nach dem Zweiten Weltkrieg wanderte Kasztner nach Israel aus und erwarb die israelische Staatsbürgerschaft. In seiner neuen Heimat wurde er bald beschuldigt, mit den Nationalsozialisten kollaboriert und sich persönlich bereichert zu haben. In Tel Aviv wurde ihm der Prozess gemacht. Bis heute ist umstritten, ob man in ihm eher einen Helden sehen soll oder einen Verräter.
Bitter war sein Ende: Kasztner wurde am 3. März 1957 vor seiner Wohnung in Tel Aviv angeschossen und erlag am 15. März 1957 den Verletzungen. Die drei Attentäter wurden zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt, jedoch nach drei Jahren Haft auf persönliche Intervention von Premier David Ben-Gurion begnadigt. In einem Gerichtsverfahren nach seinem Tod entlastete das Oberste Gericht Israels Kasztner 1958 von den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen, mit Ausnahme des Vorwurfes, er habe einzelnen Nationalsozialisten geholfen, sich der juristischen Verfolgung zu entziehen.
Wundersame Rettung eines Kleinkinds
Einer der Passagiere, die in der Nacht vom 7. auf den 8. Dezember 1944 mit dem Kasztner-Transport die Schweiz erreichten, war der damals zweijährige Peter Iczkovits. Der Sohn eines jüdisch-orthodoxen Ehepaars war Mitte 1945 im Viehwaggon zusammen mit Mutter und Schwester nach Bergen-Belsen gebracht worden, während sein Vater in Ungarn Zwangsarbeit leistete. Einige Wochen nach seiner Ankunft im KZ wurde Peter für tot erklärt. Buchstäblich im letzter Minute entdeckte jemand das noch lebende Büblein und rettete es vom Totenwagen.
Der Tuberkulose-kranke Peter Ende der vierziger Jahre im Sanatorium in Leysin. Foto Privat.
In der Schweiz angekommen, wurde die Familie Iczkovits auseinandergerissen. Sohn Peter kam wegen einer akuten Tuberkulose in das Sanatorium La Riondaz in Leysin, wo er bis 1948 gesund gepflegt wurde. Seine Mutter verbrachte die ersten Jahre in einer Zürcher Klinik, seine Schwester wurde fremdplatziert. Vater Alfred reiste 1946 in die Schweiz, in der festen Absicht, die Familie zu holen und in die USA auszuwandern. Doch das Ringen mit den hiesigen Behörden, mit den jüdischen Organisationen und fremden Konsulaten war zu kompliziert und zu zeitaufwändig.
Antisemitismus hautnah und inakzeptabel
Peter Iczkovits im Jahr 2022. Foto: Stiftung niedersächsische Gedenkstätte Bergen-Belsen. Jesco Denzel.
Schlussendlich nahm die Familie in Zürich Wohnsitz, wo Vater Alfred Autovertreter wurde. Geprägt von der Trennung von seiner Familie, dem autoritären Vater und dem schleichenden Antisemitismus wuchs Peter in Zürich auf. Auf der Suche nach seinem Glück wanderte er als junger Mann in die USA aus, kehrte aber wieder in die Schweiz zurück und begann in Zürich, im väterlichen Betrieb zu arbeiten. 1969 heiratet Peter in Haifa eine Jüdin. Dem Paar wurden nicht weniger als zehn Kinder geboren.
Peter Iczkovits 2022 in seinem Chevrolet aus dem Jahr 1926. Diese Modell hatte bereits sein Grossvater Franz im Sortiment. Foto Katrin Schregenberger.
Iczkovits lebt heute 91jährig in Zürich und hat der Historikerin und Journalistin Katrin Schregenberger aus seinem Leben erzählt. Im hohen Alter begab er sich auf Spurensuche und stellte fest, dass seine Rettung aus dem KZ einem Wunder gleichkam: Ohne das grosse Engagement von Rudolf Kasztner wäre er nicht mehr am Leben. Dessen ist sich Iczkovits sicher.
Seine Erinnerungen ergänzte die Autorin im Buch mit historischen Fakten und bettete diese in einen geopolitischen Kontext ein. Einmal mehr verdeutlicht das Werk, dass die Juden auch in der Schweiz nicht gegen Antisemitismus gefeit waren und sind. Iczkovits beklemmende Erinnerungen an Integration und Schule in den fünfziger und sechziger Jahren reflektieren die traurige Aktualität.
Titelbild. Essensausgabe im KZ Bergen-Belsen 1945. Grosses Foto: H. Oaks / Wikimedia Commons. Kleines Foto: Passbild von Peter Iczkovits (als Kind) für den Flüchtlingsausweis, aufgenommen bei seiner Ankunft in St.Gallen. Foto: Schweizerisches Bundesarchiv.
Die Autorin
Katrin Schregenberger ist Historikerin, Journalistin, Co-Autorin von «#GymiZyte: Was es heisst, heute in die Schule zu gehen» (NZZ Libro, 2020) und Autorin einer Kurzgeschichte in «Frauen erfahren Frauen» (Verlag sechsundzwanzig, 2021).
Rettung vom Totenwagen. Als Zweijähriger aus dem KZ Bergen-Belsen in die Schweiz, Katrin Schregenberger, Zytglogge, 2024, ISBN: 978-3-7296-5149-4.
Herzlichen Dank für den spannenden Artikel. Ich habe schon viele Bücher über diese Zeit gelesen. Es ist immer wieder unglaublich zu was Menschen fähig sind. Im Guten wie im Bösen!
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