Kürzlich traf ich mich mit einer Freundin zum Mittagessen. Wir plauderten über dieses und jenes und irgendwann waren wir bei unseren alten Eltern angelangt. Meine Freundin sagte: „Weisst du, ich könnte auch Probleme haben mit meiner Mutter, aber das ist mir irgendwie zu anstrengend“. Ich fand das einen interessanter Satz und habe geschaut, ob die Wissenschaft dazu eine Erklärung hat. Tatsächlich wurde ich fündig im Konzept der „Filialen Reife“, das heute in zahlreichen Beratungskontexten angewandt wird und bereits in den 60er Jahren von der amerikanischen Sozialarbeiterin Margaret Blenkner beschrieben wurde.
Im Wesentlichen geht es darum, dass die Kinder den Eltern auf Augenhöhe begegnen können. Kinder sollten also weder in ihre alte Rolle verfallen und mit Trotz und Abwehr auf die Eltern reagieren, noch sollten sie in die Rolle der Eltern schlüpfen, welche Befehle und Handlungsanweisungen durchgeben. Es führt selten zu guten Gesprächen, wenn die Kinder den Eltern vorschreiben wollen, was sie zu tun haben. Im Konzept der filialen Reife teilen die Kinder ihre Befürchtungen, Hoffnungen und Ängste ihren Eltern mit. Was diese damit machen, liegt letztlich in ihrer Verantwortung. Selbstverständlich darf man miteinander ringen, aber nur solange man das Gegenüber und seine Ansicht respektiert. Entscheiden muss die Person, welche die Verantwortung trägt.
Meiner Freundin ist die filiale Reife gelungen, weil sie sich in einer intensiven Psychotherapie mit ihrer schwierigen Jugend versöhnt hat. Heute kann sie ihrer Mutter ein Angebot machen. Will diese den Vorschlag nicht annehmen, macht die Tochter vielleicht weitere Anregungen oder auch nicht – der Ball liegt auf jeden Fall wieder bei der Mutter und die Verantwortung für die Problemlösung ebenfalls. Und noch ein Tipp: Wenn sich die Gespräche immer wieder im Kreis drehen, kann es helfen, Freunde oder Fachleute zu einem Gespräch einzuladen.
Mit dieser Kolumne verabschiede ich mich einstweilen von seniorweb.ch. Es war mir eine Freude, während den letzten zwei Jahren Aspekte des Wohnens und des Älterwerdens zu beleuchten, denn ich finde das Älterwerden eine interessante, anspruchsvolle und intensive Lebensphase. Sie finden meine Kolumnen im Blog auf meiner Webseite www.antoniajann.ch. Machet Sie‘s guet!
Dr. Antonia Jann ist Gerontologin und Organisationsberaterin. Sie informiert sich regelmässig über neue Erkenntnisse aus dem Bereich der Altersforschung. Antonia Jann führt eine Coaching-Praxis in Zürich und hat sich spezialisiert auf Fragestellungen, die Menschen in der zweiten Lebenshälfte beschäftigen. www.jann-coaching.ch
Die Seniorweb-Redaktion bedankt sich bei Antonia Jann für ihr engagiertes Mitwirken als Kolumnistin. Ihre monatlichen Kolumnen zu Themen des Alterns wurden stets gerne und vielseitig beachtet und gelesen. Und so hoffen und wünschen wir, dass ihre Schreib-Pause von kurzer Dauer sein wird und wir bald mit ihrer Rückkehr als Kolumnistin rechnen können.