Nachhaltigkeit und Lebensqualität – ein Widerspruch? Nicht unbedingt, zeigen Empa-Forscher in einer neuen Studie. Gemäss ihren Berechnungen ist ein ökologisches und sozial gerechtes Leben für über zehn Milliarden Menschen möglich. Allerdings braucht es dafür ein Umdenken.
Die Menschheit geht heute nicht nachhaltig mit der Erde um. Klimaerwärmung, Abholzung und Rückgang der Artenvielfalt machen unserem Planeten zu schaffen. Den Einen oder die Andere verleitet dieser Ist-Zustand zum Pessimismus: Können wir denn überhaupt ein ökologisches und gutes Leben für alle Menschen auf der Erde schaffen? Empa-Forschende sagen: Ja! In einer neuen Studie im «Journal of Cleaner Production» haben sie aufgezeigt, dass – zumindest technisch – auch mehr als zehn Milliarden Menschen nachhaltig auf der Erde leben können – und dabei auch noch ein angemessener Lebensstandard für alle erreichbar ist.
Für ihre Berechnung haben Hauke Schlesier und Harald Desing aus dem Empa-Labor «Technologie und Gesellschaft», gemeinsam mit Malte Schäfer von der Technischen Universität Braunschweig, das sogenannte Donut-Modell verwendet. Dieses Modell besteht aus zwei konzentrischen Kreisen. Der äussere Kreis stellt die Grenzen wichtiger planetaren Ressourcen dar, darunter etwa die Biodiversität, das Klima sowie die Land- und Wassernutzung, dessen Überschreiten das Risiko für grossflächige, abrupte und irreversible Umweltveränderungen erhöht. Ein ausgefüllter innerer Kreis bedeutet, dass die menschlichen Grundbedürfnisse erfüllt sind und ein angemessener Lebensstandard für alle Menschen erreicht ist. Der eigentliche Donut ist der Bereich zwischen diesen Kreisen: Die Menge der natürlichen Ressourcen, die über das Erreichen eines angemessenen Lebensstandards hinaus noch sicher genutzt werden könnten.
Die Bedürfnisse verstehen
Die Existenz des Donuts war bis anhin ein Postulat. Noch keine Studie konnte zeigen, ob alle Menschen ihre Grundbedürfnisse tatsächlich erfüllen können, ohne die planetaren Grenzen zu überschreiten. Wo diese planetaren Grenzen liegen, ist in der wissenschaftlichen Literatur bereits beschrieben. Aber wie quantifiziert man die Grundbedürfnisse der Menschen? «Das war die grösste Herausforderung bei dieser Studie», sagt Hauke Schlesier.
Der gelbe Kreis in der Mitte kennzeichnet einen angemessenen Lebenstandard für alle Menschen. Der rote Bereich ausserhalb des Donuts ist die Risikozone, in der irreversible Umweltschäden wahrscheinlich sind. Grafik: Empa
Nach aufwendiger Recherche haben die Forschenden schliesslich einen hypothetischen «Warenkorb» zusammengestellt. Dieser enthält eine Auswahl von Gütern und Dienstleistungen, die für einen angemessenen Lebensstandard unabdingbar sind. Der Warenkorb beinhaltet unter anderem Nahrungsmittel und Wasser, Wohnraum, Elektrizität und Mobilität, aber auch Krankenhäuser für Gesundheitsversorgung und Schulen für Bildung, öffentliche Bereiche und Versammlungsorte sowie moderne Kommunikationsmittel. «Natürlich haben Menschen noch andere Grundbedürfnisse, beispielsweise das Bedürfnis nach Sicherheit, die aber nicht zwangsläufig materielle Ressourcen verbrauchen müssen», erklärt Schlesier.
Die Umweltschäden durch das Bereitstellen des Warenkorbs haben die Forschenden dann mit den planetaren Grenzen verglichen. Ihr Resultat: «Wir konnten zeigen, dass ein angemessenes und ökologisches Leben für mehr als zehn Milliarden Menschen mit hoher Wahrscheinlichkeit möglich ist», so Schlesier. «Allerdings braucht es dafür einen grundlegenden Wandel in vielen Systemen, mit denen wir diese essentiellen Güter und Dienstleistungen bereitstellen.»
Ressourcen besser nutzen
Was müssen wir also tun, um nachhaltig leben zu können? Am dringendsten braucht es ein Umdenken beim Energiesystem und bei der Landwirtschaft, so die Forschenden. «Die planetaren Grenzen, die heute am stärksten überschritten sind, sind das Klimasystem, die Artenvielfalt sowie die biogeochemischen Flüsse von Phosphor und Stickstoff», erklärt Desing.
Um einen angemessenen Lebensstandard für alle innerhalb planetarer Grenzen zu erreichen, braucht es einen kompletten Verzicht auf fossile Brennstoffe sowie eine Umstellung der Landwirtschaft zugunsten einer überwiegend pflanzlichen Ernährung. Das bedeute nicht, dass in Zukunft gar kein Fleischkonsum mehr möglich sei, stellt Schlesier klar. Mit einigen Formen von extensiver Landwirtschaft wäre durchaus auch Tierhaltung möglich – einfach nicht im selben Ausmass wie heute, denn die moderne Massentierhaltung belaste das System zu stark. «Unser Modell sieht ausserdem vor, dass keine Landnutzungsänderung mehr stattfindet, also keine weitere Umwandlung von natürlichen Landschaften zu Ackerland», erklärt Desing. «Durch den Wegfall der grossen Weiden und der Flächen für Futtermittelanbau wäre mehr als genug Ackerland vorhanden, um die Menschheit zu ernähren.»
Eine weitere wichtige Transformation auf dem Weg zum Donut ist das Angleichen des Lebensstandards an die Grundbedürfnisse. «In grossen Teilen des globalen Südens würde das eine starke Anhebung des Lebensstandards bedeuten», sagt Schlesier. In einigen Ländern des globalen Nordens, darunter auch in der Schweiz, müsste der Ressourcenverbrauch bescheidener ausfallen als heute. «Dies bedeutet aber nicht zwangsläufig eine Reduktion des Wohlergehens», erklärt der Forscher. «Studien haben gezeigt, dass das Wohlergehen ab einem gewissen Wohlstandsniveau stagniert und nicht mehr weiter steigt.» In reichen Ländern wie der Schweiz kann eine Reduktion der Wohnfläche sowie ein geringeres Ausmass an individueller Mobilität zu einem angemesseneren Lebensstandard führen. Hingegen können der öffentliche Verkehr und die Gesundheitsversorgung durchaus ausgebaut werden, ohne dass Umweltschäden signifikant stiegen, versichert Harald Desing.
Der Donut des nachhaltigen Lebens existiert also tatsächlich – er ist aber sehr schmal. «Mit all diesen Transformationen würden wir in unserem Modell den Donut gerade erreichen, aber es gibt kaum Spielraum», so Desing. Das bedeute aber nicht, dass die Menschheit nie über diesen angemessenen Lebensstandard hinausgehen kann. «Unser Modell berücksichtigt nicht alle denkbaren künftigen Veränderungen. Wir haben noch ein paar Asse im Ärmel», sagt Schlesier. Die Berechnung basiert nämlich auf dem Technologiestand von heute. Mit technischem Fortschritt, anderen landwirtschaftlichen Praktiken und dem Wandel hin zur Kreislaufwirtschaft liesse sich also durchaus ökologischer Spielraum schaffen, sind die Forscher überzeugt.
Weiterführende, detaillierte Informationen zur Forschung der Thematik planetarer Grenzen bietet Wikipedia mit diesem Link
https://de.wikipedia.org/wiki/Planetare_Grenzen