Der Film «The Burdened» von Amr Gamal ist eine stille, eindringliche Beziehungsstudie und Gesellschaftskritik über das gewöhnliche Alltagsleben im Jemen, das unter Kapitalismus, Konservativismus und Klerikalismus leidet – die einen allgemeingültigen Wert hat. Ab 15. August im Kino.

Im Jemen herrscht nach Einschätzung der Vereinten Nationen eine der schlimmsten humanitären Krisen der Welt. Der seit 2015 dauernde bewaffnete Konflikt hat die bereits zuvor kritische Lage im Land noch deutlich verschärft. Alle fünfzehn Minuten stirbt ein Kind an einer vermeidbaren Krankheit. Die Wirtschaft liegt in Trümmern. Ein grosser Teil der Zivilbevölkerung hat kein Geld für Lebensmittel.

Der 1983 in Polen geborene Regisseur Amr Gamal, dessen Wurzeln im Jemen sind, schuf 2018, nach zahlreichen Theaterarbeiten, mit seinem Leinwanddebüt «10 Days Before the Wedding» den ersten Film seit 30 Jahren, der im Land gedreht wurde. Sein Nachfolgewerk «The Burdened» handelt im Oktober 2019, ist im Süden des Jemen, in der Hafenstadt Aden angesiedelt und basiert auf einer wahren Geschichte aus dem Freundeskreis des Regisseurs. Mohsen Alkhalifi, der Co-Produzent des Films, berichtet von zahlreichen Problemen, mit denen das Team während der Dreharbeiten konfrontiert war. Neben der fehlenden finanziellen Förderung betraf dies den zeitweise fehlenden Strom. Die Uraufführung von «Al Murhaqoon», das der Originaltitel, fand 2023 bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin statt.

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Ahmed kauft eine Schüleruniform

Die traurige Vielfalt der Behinderungen

Aden im Bürgerkrieg 2019. Isra’a (Abeer Mohammed) wird von ihrem Ehemann Ahmed (Khaled Hamdan) erneut schwanger. Das Paar hat bereits drei Kinder im schulpflichtigen Alter, und der Fernsehsender, für den er als Journalist gearbeitet hatte, wurde wegen des Krieges geschlossen. Seit zwei Monaten wartet er auf sein ausstehendes Gehalt und schlägt sich mehr schlecht als recht als Fahrer eines Minibustaxis durch. Seine offene und direkte Art macht es für ihn schwierig, bei einem anderen Medienhaus eine Anstellung zu finden, da er kritische Ansichten äussert und problematische Zustände hinterfragt. Zu allem Überfluss hat ihr Vermieter die Miete ihrer Wohnung erhöht, und sie müssen eine billigere suchen. Ahmed muss sich immer wieder Geld leihen, weil er nicht einmal die Schulgebühren für den jüngsten Sohn aufbringen kann. Dennoch entschliesst sich das Paar für eine Abtreibung, obwohl diese in Jemen offiziell verbotenist.

Burdened.5 Isra’a verkauft ihren Schmuck

Stress beim Einkaufen und in der Küche

Gamal zeigt in langen, ruhigen Einstellungen, wie der Bürgerkrieg das Leben im Jemen beeinflusst. Mit seinem Kameramann Mrinal Desai erfasst der Film etwa militärische Kontrollen auf der Strasse und zeigt die Einschränkungen im Alltag, unter anderem durch Stromausfälle. Wir begleiten das Paar auf den Markt, wo die beiden mit dem knappen Geld einkaufen, und verbringen die Zeit mit ihnen in der Küche, während nebenbei das Radio mit News und Musik läuft. Oft verweilt die Kamera noch für einige Sekunden an einem Schauplatz, während sich die zentralen Figuren schon entfernt haben, und wir ahnen, dass noch andere Personen ebenfalls mit Konflikten zu kämpfen haben. «Halte dich aus den Angelegenheiten anderer Leute raus», lautet das Motto, das in einer Szene formuliert wird. Und so bleiben die Probleme im Verborgenen. Als die fünfköpfige Familie umzieht, wird das Gefühl der Unsicherheit und Tristesse in den unrenovierten, improvisiert eingerichteten Räumen deutlich; statt Betten gibt es Matratzen und überall stehen Kisten herum.

Burdened.6 Isra’a beim Schwangerschaftsuntersuch

Der absurde Hindernislauf in der Klinik

Religiöse und ethische Diskussionen sorgen zuweilen für emotionale Eruptionen. Und es ist spürbar, dass Gefühle auch zu diesen Fragen zumeist unterdrückt werden. Dinge bleiben unausgesprochen, Spannungen unaufgelöst. Seine intensivsten Momente hat «The Burdened» im Krankenhaus, in dem Ahmed und Isra’a einen geradezu absurd wirkenden Hindernisparcours zu durchlaufen haben. Dieser ist nur mit bürokratischen Tricks und Bestechungsgeld zu bewältigen. Am Ende steht die völlige Erschöpfung aller Beteiligten. Der Lauf ist zwar vorüber, doch am Ziel ist niemand.

Burdened.1Die versammelte Familie

Die Widersprüche und Beruhigungen

Amr Gamal, in einem Interview in Berlin: «Der Film soll die Frage aufwerfen: Wenn der Preis für die Aufrechterhaltung der Schwangerschaft darin besteht, dass das Kind und eine Familie im Elend leben würden, was ist dann die Lösung? Der Volksmund beruhigt die Leute: Mit dem Kind wird auch sein tägliches Brot geboren. Doch das ist tradiertes Gerede, das nichts mit der Realität zu tun hat. Meine Position kommt in der Szene zum Ausdruck, in der die Frau ihren Mann fragt: Was werden wir unseren Kindern später darüber sagen? Und seine Antwort: Wir werden ihnen sagen, dass wir es für sie getan haben.»

Gemeinsam haben Isra’a und Ahmed die Ansichten verschiedener religiöser Führer zur Abtreibungsfrage konsultiert. Eine moderate Ansicht beinhaltet, dass ein Fötus erst mit 120 Tagen eine Seele besitze und somit Abtreibungen in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten vertretbar seien. Während Isra’a noch mit sich und ihrem Glauben hadert, ist für Ahmed die Abtreibung beschlossene Sache. Das Youtube-Video mit dem religiösen Führer, der eine Abtreibung bis zum Ablauf des 3. Schwangerschaftsmonats als mit den religiösen Gesetzen vereinbart sieht, stellt Isra’a ihrer Freundin Muna zur Verfügung, die als Frauenärztin in einer kleinen Klinik arbeitet. Diese hat bereits bei ihrem dritten Kind eine Abtreibung abgelehnt, da sie strenggläubig ist, anders als Isra’a und Ahmed, die in einem liberalen Elternhaus aufgewachsen sind. Das Paar sucht sie gemeinsam auf, um sie erneut um eine Abtreibung zu bitten. Isra’a erklärt ihr, dass sie wegen ihrer Blutarmut die Pille nicht vertrage und daher schwanger geworden sei. Muna lehnt die Bitte ab. Das Paar entscheidet sich, eine illegale Abtreibung zu Hause vornehmen zu lassen. Doch als die beiden bestellten Engelmacherinnen den Eingriff vornehmen wollen, taucht Muna auf, schickt diese weg, schimpft mit Isra’a und erklärt ihr, dass sie ihr Leben riskiere. Ab hier geht die Geschichte nochmals in eine andere Richtung…

Der alltägliche Überlebenskampf verläuft im Jemen, abgewandelt auch anderswo, so wie er in dieser von Kapitalismus, Konservativismus und Klerikalismus überschatteten Realität nur sein kann, wo Entscheidungen nicht Fragen des Gewissens, sondern der Ökonomie…

Titelbild: Die Kinder von Isra’a und Ahmed

Regie: Amr Gamal, Produktion: 2023, Länge: 91 min, Verleih: trigon-film