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Sind wir zu saturiert? Nachlese zum 1. August

Der 1. August könnte es in sich haben. Politiker reisen jeweils landauf landab und halten Reden. Bundesrat Albert Rösti schaffte dieses Jahr sieben Auftritte, fühlte sich pudelwohl, liess sich umgarnen, liess sich als umsichtiger, auch bodenständiger, nicht mehr so als eifriger SVP-Politiker, sondern als Landesvater feiern. Er ist im Bundesrat angekommen. Aber was sagte er an diesem eidgenössischen Feiertag? Liess er zumindest aufblitzen, wie sich unser Land entwickeln, im schwierigen internationalen Umfeld behaupten, gar zu neuen Ufern aubrechen könnte, in der Europa-, in der Verteidigungs-, in der Migrations-, in der Gesundheits-, in der Alters- und Vorsorge-, gar in der Umweltpolitik? Mitnichten. Seine Worte waren freundlich, blieben nüchtern, spannungslos. Eine einzige indirekte Bemerkung zu Europa sollte uns aber aufhorchen lassen: «…bei den aktuellen Verhandlungen mit der EU sind die Volksrechte zu achten.» Ohne es auszuformulieren zielt er darauf ab, dass der bald ausgehandelte Vertrag mit der EU sowohl Volk als auch Ständen zu unterbreiten sei. Das ist sehr umstritten. Nach einem Gutachten des Justizdepartements ist das Ständemehr beim künftigen EU-Abkommen, wie bei Staatsverträgen, nicht notwendig, im Gegensatz zu Verfassungsänderungen. So hofft er wohl als SVP-Bundesrat bereits jetzt, dass der Vertag dennoch dem Ständemehr unterstellt und so am Veto der kleinen Kantone scheitern wird.

«Volksrechte», die einerseits durch das Ständemehr einen starken Minderheitenschutz garantieren, aber auch die beschränkte Einflussnahme der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger vor allem in den gossen Kantone zur Folge haben. Hat doch eine Stimme im Kanton Appenzell Innerrhoden beispielsweise gegen 40-mal mehr Gewicht als eine Stimme im Kanton Zürich. Eine Problematik der direkten Demokratie, die an einem 1. August durchaus zur Diskussion gestellt werden könnte, vor allem von einem Bundesrat gar müsste. Gerade im Vorfeld einer der wohl wichtigsten Abstimmung der nächsten Zeit, die das Verhältnis unseres Landes mit der EU regeln soll.

Nur: Unser Land befindet sich in einer hervorragenden Verfassung. Ist es also nicht die Zeit, um sich grundsätzliche Fragen zu unserer Zukunft zu stellen? Sind wir gar zu saturiert? Denn die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung in der Schweiz betrug 2023 durchschnittlich sage und schreibe gegen  90’000 Franken. In den USA dagegen betrug sie rund 63’000 und in der EU gar nur 32’000 Franken.

Die Zahlen relativieren sich etwas, wenn man den Vergleich mit 1990 heranzieht. Seither hat die reale Wirtschaftsleistung in den USA nach der NZZ um 66 Prozent zugenommen, in der EU um 57 Prozent. Die Schweiz verzeichnete auch ein Plus, aber nur um 28 Prozent. Wollen wir den Stand halten, können wir also nicht die Hände in den Schoss legen. Im Gegenteil. Eine schonungslose Analyse tut Not. Oder ist es  – noch einmal – gerade diese brillante Verfassung der Grund dafür, dass wir nicht mehr in der Lage sind, die anstehenden Probleme zeitgerecht und zukunftsorientiert zu lösen, einer Lösung entgegenzuführen? Können wir uns den Stillstand schlicht und einfach leisten? Es macht den Anschein. Greifen wir dazu zentrale Themen auf: Unser Verhältnis zu Europa, die Strategie der Verteidigung, die Altersvorsorge und nicht zuletzt die Migrationsproblematik.

Bundesrat Beat Jans wagte den Schritt an die Öffentlichkeit, meinte, dass die Schweiz ein geordnetes Verhältnis zu Europa brauche. Er wird aber gleich von alt Bundesrat Ueli Maurer in ungewohnt scharfer Weise gedeckelt; er führe damit die Schweiz an den Abgrund. Jans` behutsame, aber vorwärtsgewandte Migrationspolitik meint die SVP an einer dafür eigens einberufenen Pressekonferenz sofort in Bausch und Bogen verwerfen zu müssen.

Bundesrat und Parlament präsentieren uns für den 22. September 2024 eine Reform der beruflichen Vorsorge BVG, die weder durchdacht noch in ihren Auswirkungen durchschaubar ist. Sie betrifft nur etwa 17%, bringt zwar den Einbezug tiefer Einkommen, belastet diese aber über der Norm und bringt eine  klägliche Rente, für die zu kämpfen es sich nicht lohnt. Über 1’100 Milliarden Franken haben wir im BVG angespart, sind angelegt. Damit liesse sich eine Reform in Gang bringen, die allen eine angemessene Rente bringen würde.

Die «beste Armee der Welt», wie Ueli Maurer die Schweizer Armee bezeichnete, als er dem Militärdepartment vorstand, ist weit davon entfernt, es tatsächlich auch zu sein. Nüchtern betrachtet würde sie keinen militärischen Verteidigungskampf allein bestehen können, da werden auch die 35 hervorragenden F35-Kampfjets nichts nützen, wenn sie dann etwa 2027/28 ausgeliefert werden. Ohne Integration in eine europäische Verteidigungsstrategie sind wir letztlich allein und mehr als verletzlich.

Fazit: Wir befanden uns am 1. August 2024 und befinden uns auch weiterhin in einer hervorragenden Verfassung. Statt nüchtern zu analysieren, unser beste Ausgangslage zu erkennen, sie zu nutzen, streiten wir auf höchstem Wohlstandsniveau, weil wir es uns noch leisten können. Wie lange noch? Wann besinnen wir uns wieder auf die freundeidgenössische Tugend, die uns so weit gebracht hat: auf die Vernunft, die zum Kompromiss führt.

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3 Kommentare

  1. Erneut haben Sie die richtigen Worte gefunden den Leser:innen klar zu machen, wo die Baustellen und Konfliktherde der Schweiz auszumachen sind um gleichzeitig aufzuzeigen, dass der Status quo langfristig nur erhalten werden kann, wenn eine Kooperation mit der EU erreicht wird.
    Das kümmert die SVP wenig, statt sich loyal gegenüber den Menschen in Europa zu verhalten und die demokratischen Werte und die Sicherheit aller zu stärken, schütten sie erneut, ganz in «Trumpscher Manier» und natürlich via Medien, den letzten PR-Schmutz über mutige und engagierte Schweizer Politiker:innen. Diese Art des Politisierens ist abstossend und kaum mehr zu ertragen.

    Im Beitrag von Beat Steiger «Flaggenmeer» vom 31. Juli 2024, in der Sparte Gesellschaft, geht es darum, unseren Blick über nationalstaatliche Befindlichkeiten hinaus zu weiten. An unserem Nationalfeiertag hätte ich mir Überlegungen dieser Art in den vorgetragenen Reden und in den Medien gewünscht. Das vorgestellte Buch der Philosophin Seyla Benhabib «Kosmopolitismus im Wandel» hilft uns, den Horizont zu erweitern und für die Zukunft eine Neuausrichtung unserer Gedanken und unseres Handelns zu finden.

  2. gekonnte situationsanalyse über den zustand der schweiz.
    bevor wir darüber debattieren, ob es bei einer abstimmung das ständemehr braucht, müsste der rahmenvertrag zustande kommen.
    geld und gülle und SVP tun alles (alles) um zu verhindern, dass es zu einer einigung kommt. schon jetzt. solltten dereinst tatsächlich einigungen vorliegen, werden unsere milliardäre das zu verhindern wissen.

    • L’Etat, c’est moi! Der Ausspruch des Französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV. hat mir als Demokratin schon immer gefallen, denn dieser Ausruf gilt auch für eine sozialdemokratische Gesellschaft. Der Staat sind wir, die Macht gehört allen, nicht nur einer Elite oder einem Einzelnen.
      Das Schweizer Volk ist Arbeitgeber:in und Geldgeber:in unserer Bundesbehörden. Das Volk wählt seine Volksvertreter:innen, die sich an die geltenden Gesetze halten müssen, die für die Bürger:innen dieses Landes in demokratischen Abstimmungen festgeschrieben werden.
      Es ist ein grosses Privileg in einem freien Land, ohne Krieg und im Wohlstand, leben zu dürfen. Unsere Verfassung gibt den Bürger:innen die Macht und die Pflicht sowie die Legitimation sich für das Wohl aller einzusetzen und diejenigen Menschen in der Bundes-, Kantons- und Gemeindepolitik zu unterstützten, die diesen Verfassungsauftrag umsetzen wollen wie auch denjenigen, die nur ihre eigenen Vorteile im Fokus haben und unseren Rechtsstaat schwächen wollen, eine Abfuhr zu erteilen.

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