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Auf dem Weg zu Tekla und zu sich

Der schwedisch-georgische Regisseur Levan Akin schuf nach eigenen Erfahrungen die berührende, zärtliche Geschichte einer pensionierten Lehrerin, die ihre verschwundene Nichte in der queeren Gemeinschaft sucht. Was auf der Reise dorthin und ins eigene Innere alles abläuft, ist traurig und beglückend zugleich. Ab 12. September im Kino.

Die 72-jährige pensionierte Lehrerin Lia (Maia Arabili) will herausfinden, was aus ihrer seit Jahren verschollenen Nichte Tekla geworden ist. Von Achi (Lucas Kankava), einem Teenager aus ihrer Nachbarschaft im georgischen Batumi, bekommt Lia den Tipp, dass Tekla die beschaulichen Verhältnisse Georgiens gegen das pulsierende Leben in Istanbul eingetauscht hat. So begibt sich das ungleiche Paar gemeinsam auf die Reise in die türkische Metropole, wo sie dem faszinierenden und chaotischen Charme der Stadt erliegen. Doch Hinweise zum Verbleib der Verschollenen gibt es keine. Erst mithilfe der in der Sexszene engagierten Anwältin Evrim (Demiz Dumana) können sie sich einen Weg durch Istanbuls Gassen und Hinterhöfe bahnen und kommen Tekla auf die Spur. Wie das gezeigt wird, ist unter anderem das grossartige Werk der Kamerafrau (Lisabi Fidell) und das mitreissende Spiel der Protagonist:innen, vorab von Lia.

Genauso wie beim letzten Film von Levan Akins geht es im neuen, «Crossing», dem Publikumsliebling der diesjährigen Berlinale, um grosse Gefühle, die unter die Haut gehen und bereichern. Zwei gegensätzliche Fremde überwinden auf ihrer Mission ihre ideologischen, kulturellen und inneren Grenzen, und machen aus der Geschichte eine Ode an die Menschlichkeit und Freundschaft.

CROSSING Still 2Achi und Lia, am Rand und dennoch in der Mitte

Regisseur Levan Akin zum Film – und meine weiterführenden Kommentare

Mit «Crossing» wollte ich einen Film über Solidarität und die kleinen Gesten der Freundlichkeit und des Verständnisses zwischen Fremden und Familie machen. Ausserdem wollte ich Räume und Orte zeigen, die in den Geschichten dieser Region nur selten erforscht werden. – Mein Kommentar: Es scheint mir von eminenter Wichtigkeit, dass Autor:innen Räume und Orte auswählen, die nicht von Netflix schon verbraucht sind. Auch dort leben Menschen, die verdienen, wahrgenommen zu werden!

Der Film basiert auf einer wahren Geschichte, die mir während der Recherche zum letzten Film erzählt wurde und von einem Grossvater handelt, der auf der Suche nach seiner transsexuellen Enkelin von Georgien in die Türkei reist. Wie schon bei meinem vorherigen Film war auch die Arbeit an «Crossing» eine grosse Herausforderung. Denn die LGBTQ-Menschen stehen in Georgien und der Türkei unter grossem Druck, und der türkische Präsident Erdogan hat einen Grossteil seines jüngsten Präsidentschaftskampfes mit Anti-LGBTQ-Rhetorik geführt. – Auch wenn weltweit die drei grossen Kirchen Homosexualität verbieten, disqualifizieren oder bestrafen und die Betroffenen ins gesellschaftliche WC hinunterspülen, gilt es zu bedenken: Es geht um Menschen aus Leib und Blut und Seelen, die darunter leiden!

In meinem Film folgen wir der pensionierten Lehrerin Lia, die den letzten Wunsch ihrer kürzlich verstorbenen Schwester erfüllen will, ihre verlorene transsexuelle Tochter Tekla zu finden. Zusammen mit Achi, einem jungen Mann, der vom Glück verlassen ist, und der behauptet, Teklas Adresse in Istanbul zu kennen, reist sie von Georgien in die Türkei, um ihre Nichte zu finden. Lia und Achi stammen aus verschiedenen Generationen und haben nicht viel gemeinsam, obwohl sie im selben Land leben. In Georgien gibt es eine grosse ideologische Kluft zwischen der sowjetischen und der postsowjetischen Generation. Achi möchte Georgien unbedingt verlassen, da er unter der Repression seines älteren Bruders lebt und weiss, dass es für seine junge, westlich orientierte Generation in Georgien keine Zukunft gibt. – Levan Akin gibt in seinem Film einer Frau, einer Alten, einer Schwester das Wort – nicht Männern, Wirtschaftsbossen und Kriegsgenerälen, als ein nötiger Ausgleich zu den verbreiteten Machobildern in den Medien!

CROSSING Still 1Lia taucht aus ihrer Vergangenheit auf

Im Laufe der Reise entwickelt sich auch Lia weiter. Durch ihre Beziehung zu Achi und ihre Begegnungen mit der Trans-Gemeinschaft, insbesondere mit Evrim, einer Trans-Frau, die als Anwältin für eine NGO in Istanbul arbeitet, beginnt Lia, sich zu öffnen und die Welt und ihren Platz darin anders zu sehen. Alle drei Hauptfiguren haben grosse Opfer gebracht, indem sie ihr Leben und ihre Hemmungen einschränkten. Ich selbst bin Georgier, geboren in Schweden, meine Vorfahren stammen aus Batumi, ich habe Verbindungen zur Türkei, meine Eltern sind beide dort geboren. Die Reise von Batumi in Georgien entlang des Schwarzen Meeres nach Istanbul habe ich selbst als Kind oft unternommen. Ich bin eine Mischung aus vielen Kulturen, Traditionen und Normen, und die Themen Modernität und Tradition sind sehr persönlich und etwas, mit dem ich selbst zu kämpfen hatte. – «Crossing» handelt von Menschen, die sich ändern, entwickeln, was glaubhaft wirkt und uns überzeugt, weil der Regisseur von den Menschen in seinem Umfeld davon gehört hat.

Ich habe viel aus meinen eigenen Erfahrungen geschöpft und mich gefragt: Wenn meine Grosseltern heute leben würden, würden sie mich so akzeptieren, wie ich bin? Wahrscheinlich nicht. Aber ich hoffe, dass ich durch das Aufzeigen dieser Beispiele für Akzeptanz zu neuen Wegen inspirieren kann.

CROSSING Still 3Evrim, die angehende Anwältin und Aktivistin

Biografie des Regisseurs

Levan Akin, geb. 1979, ist ein schwedischer Filmemacher georgischer Abstammung. In seinem Werk setzt er sich mit Klasse, Geschlecht, Sexualität, auch Homosexualität, auseinander. Dazu gehört der von der Kritik hochgelobte Film «And Then We Danced», der in Cannes 2019 uraufgeführt und als Schwedens Oscar-Beitrag ausgewählt wurde. Akin hat auch bemerkenswerte Beiträge für das Fernsehen geschaffen. Ausserdem fungierte er 2022 als Co-Produzent und Regisseur für die Adaption von «Interview With The Vampire». Sein neuer Film, «Crossing», erlebte 2024 auf der Berlinale Premiere und wurde dort wie auch an andern Festivals prämiert.

CROSSING Still 5Achi, daheim in der Heimatlosigkeit

Sätze am Schluss, welche über das Ende des Films hinausweisen

«Istanbul, ein Ort, wo die Menschen hinkommen, um zu verschwinden.»
«Sind Sie sicher, dass sie gefunden werden will?»
Achi: «Was würden Sie Tekla sagen?»
«Ich würde ihr sagen, dass wir sie im Stich gelassen haben.
Ihre Mutter und ich. Dass wir nichts für sie getan haben.
Dass wir so viel Zeit vergeudet haben.
Dass wir uns nur darum gekümmert haben,
was die Leute über uns sagen würden.
Ich würde ihr sagen, dass ihre Mutter sie sehr lieb hat,
dass auch ich sie sehr lieb habe.
Ich werde hierbleiben und weitersuchen, bis ich dich gefunden habe.»

Gespräch mit Levan Akin über die Entstehung und Bedeutung des Films

Regie: Levan Akin, Produktion: 2024, Länge: 106 min, Verleih: Cineworx

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