Seit seiner Geschlechtsumwandlung lebt Sam (Elliot Page) fernab von seiner Familie, bis er nach vier Jahren zum Geburtstagsfest seines Vaters kommt. Im Zug trifft er Katherine (Hillary Baack), seine Freundin aus der High School. Die neue Annäherung an die Familie, die Verwandten und Kat schildert das intime und tiefsinnige Kammerspiel «Close to You» von Dominic Savage. Ab 5. September im Kino.
Der folgende Text von Dominic Savage ist eine sinnvolle Einführung zu «Close to You» und gleichzeitig eine Anleitung, generell mit Filmen sein Leben zu befragen:
Dominic Savage, * 1962
«Die Filme, die ich in den letzten Jahren gemacht habe, wurden alle mit einem bestimmten Hauptdarsteller gedreht und speziell für ihn geschrieben. Es sind, wie ich finde, besondere Kollaborationen, die zu Geschichten führen, die in der Wahrheit verwurzelt sind, die eine tiefe Bedeutung für mich und den Schauspieler haben. Es sind Filme über die Komplexität unserer Beziehungen, die schwierigen Teile unseres Lebens, das Alltägliche unserer Existenz und das Streben nach Bedeutung und Wahrheit.
Meine Filme durchziehen auch ein anderes, wichtiges Dauerthema, das meine Arbeit charakterisiert: dass, bei allen Unterschieden in den Geschichten und Lebensrealitäten, die Hauptfigur immer irgendwie weiter auf ihrem Weg zu der Person kommt, die sie schon immer sein sollte. Die Person, von der sie schon immer wusste, dass sie in ihrem Inneren existiert, die sie aber bis jetzt nie ganz verwirklichen konnte. Die persönliche Geschichte von Elliot Page verkörpert dieses Ideal in vollem Umfang und auf authentische Weise. Auf eine Art und Weise, die ich sowohl nachempfinden kann als auch bewundernswert finde. Und für mich ist dies eine der wichtigsten Fragen und Dilemmas für uns alle. Wer wir wirklich sind, was das alles für uns bedeutet und wie wir ein möglichst authentisches Leben führen können.
«Close to You«, ein Film, von dem ich von dem Moment an, als ich Elliot traf, wusste, dass ich ihn machen musste. Alles daran fühlte sich wie für mich bestimmt an. Er ist das Ergebnis dieser Begegnung, bei der wir die gleichen Ziele und Visionen für einen Film über Liebe, Familie und Identität hatten. Wir haben ihn mit der gemeinsamen Liebe und Überzeugung gemacht, die für eine solche Geschichte erforderlich sind, in der wichtige Elemente des Lebens erkundet werden. Gegenseitiges Vertrauen ist eine wichtige Voraussetzung für die Filme, die ich mache und für die Art und Weise, wie ich meine Arbeit verstehe. Dieses Vertrauen war auch beim ersten Gespräch zwischen uns offensichtlich. Für mich gibt es keine bessere Art zu arbeiten als diese, einen Film mit, für und wegen jemandem zu machen, und dass dieser Film die Schwierigkeiten und die Schönheit unseres Lebens widerspiegelt.»
Sams Blick nach draussen
Sams Annäherung an die neue alte Welt
Der junge Sam, blickt aus dem Fenster, mit nacktem Oberkörper und Spuren seiner Brustamputation. Er kleidet sich an, trinkt Kaffee mit seiner Vermieterin, die ihn nach seinem Befinden fragt. «Natürlich schlecht, fahre ich doch nach Hause zu Dads Geburtstag.» «Ganz schön mutig!» «Sobald ich aufkreuze, gehen die Diskussion los. Ich kapiere es nicht, wieso die Familie mich dabeihaben will. Bin ich für sie doch eine Riesenenttäuschung. Was denken sie wirklich und erzählen sie ihren Freunden?»
Im Zug von Toronto nach Montreal entdeckt er eine Frau, die er kennt. Es ist Katherine, seine Schulfreundin aus der High School. «Das gibt es ja nicht!» Sie umarmen sich innig. Sie fährt nach Cobourg, ist verheiratet und hat zwei Kinder: «Ich komme oft an den Ecken vorbei, wo wir uns herumgetrieben haben. Doch mein Leben hat sich verändert.». Er: «Tut mir leid, keine Ahnung, warum ich heule». Beide sind aufgewühlt, halten sich zitternd die Hände. Sie muss aussteigen. Auch er steigt aus, folgt ihr, verpasst seinen Zug, ruft ihr nach: «Mein Leben hat sich verändert.»
Zurück in die Vergangenheit
Katherine und Sam blicken sich tief in die Augen. «Sollen wir ein Stück gemeinsam gehen?» «Nein.» Sie wird von ihrem Mann abgeholt, mit dem sie sich noch etwas über die Kinder unterhält, ist emotional aber immer noch bei Sam. Die Begegnung war für beide krass. Doch sie muss zur Arbeit. Sam und Kat sind aufgewühlt und fühlen sich ganz nah, nachdem längst vergangene Emotionen sie überschüttet haben.
Vater und Mutter
Sam steht vor dem Elternhaus. «Meine Güte, da bist du ja!», begrüsst ihn die Mutter, «ich hatte schon Angst, du überlegst es dir anders.» Der Vater umarmt Sam. Man arrangiert sich zu einem Familienfoto. «Du meine Güte, wir sind alle zusammen!» Geschenke werden Dad gegeben. «Von nun an bist du mein alter Schwieger-Herr» meint einer. Ein Wort daneben, doch nicht das letzte. Der Vater: «Gute Arbeit, gute Kollegen, hast du jemanden?» «Nein, ich suche auch niemanden.»
Geschwister und Verwandte
Ein Wort ergibt das andere, freudige, vorsichtige, zwiespältige. «Lernt man in der Stadt nur queere und trans Menschen kennen?», tönt es. «Ich fühle mich zum ersten Mal glücklich, Mom, mach dir keine Sorgen.» Der Mann von Meg findet viel Unausgesprochenes in der Luft.» Die einstige Zimmernachbarin: «Ich wünschte, du hättest mehr mit mir geredet, ich würde die Zeit gern zurückholen.» Dann kursiert eine Liste, die besagt, was man sagen darf, was nicht. Doch Sam meint: «Ich bin ein Mensch. Brauche kein Reglement.» Es kommt zum Streit: «Heute ist Sam gekommen, und schon ist er wieder weg!»
Im zweiten Teil des Films wechseln die Szenen häufiger, werden die Sequenzen kürzer, die Blicke und Gesten häufiger und intensiver, und das Schweigen dauert immer länger.
Am Meer, in der Liebe
Katharina und Sam sprechen über ihre Liebe: «Jetzt fühle ich mich wie früher.» «Wie war es damals für dich?» «Du warst mein bester Freund.» «Nur bei dir konnte ich ich sein. Keine Ahnung, was ich ohne dich gemacht hätte. Ich war gern für dich da. Ich habe das gleiche Gefühl wie damals, wenn ich dich anschaue.» «Es tut so gut, dir wieder nahe zu sein.» «Ich werde dich immer lieben, komme, was wolle». Lange Pause: «Bis du mit jemandem zusammen?» «Nein.» Sie fährt weg. Er: «Wie gerne würde ich dich mit nach Toronto nehmen. Wenn das nur ginge. Wir bleiben im Kontakt.» «Ich will dir etwas erzählen: Ich will dich.» «Ich dich auch.» «Ich würde dich gerne berühren.» Nahe bei dir, Close to You. Der letzte Satz von Katherine, bleibt auch der letzte Satz des Films: «Zu wissen, dass es so eine Liebe gibt, ist wunderschön.»
Regie: Dominic Savage, Produktion: 2023, Länge: 100 min, Verleih: Frenetic