Readymades waren der Schock der Moderne. Im Rahmen der Ausstellung «Form Matters, Matter Forms» zeigt das Kunst Museum Winterthur Readymades seit 1964 bis in die Gegenwart. Alltagsgegenstände, die in einem veränderten Umfeld als Kunst wahrgenommen und bewertet werden.
Mit der Erfindung des Readymade durch Marcel Duchamp in den 1910er Jahren wurden erstmals Alltagsgegenstände provokativ zur Kunst erklärt. Im Umfeld der Pop-Art der 1960er Jahre nahm der Einfluss von Produkte- und Werbedesign auf die Kunst zu. Die Winterthurer Ausstellung Form Matters, Matter Forms zeigt, wie sich die Kunst im wechselseitigen Verhältnis zur Konsumgesellschaft, zu Massenmedien und Populärkultur bis in die Gegenwart bewegt.
Marcel Duchamp, «La Boîte en valise», 1941/1963. Duchamps Schachtel ist eine Art Werkverzeichnis in Miniaturform, das seine Entwicklung von der klassischen Malerei bis hin zu seinem konzeptuellen Kunstverständnis der Readymades aufzeigt.
Der französisch-amerikanische Künstler Marcel Duchamp (1887-1968) begann mit traditioneller und avantgardistischer Malerei, bis sie ihm angesichts von Fotografie und Kino überflüssig vorkam. 1914 präsentierte er einen Flaschenhalter, «Porte-bouteilles», kein vom Künstler geschaffenes, sondern ein von ihm ausgesuchtes Gebrauchsobjekt. Ein wertloses Objekt ohne jeden ästhetischen Anspruch, das anfänglich auch nicht zum Verkauf bestimmt war.
Multiple von Marcel Duchamps «Porte-bouteilles» (Bottle Rack) von 1914 (Wikimedia) und Appropriation von Elaine Sturtevant, «Duchamp fountain», 1973.
1917 kaufte Duchamp in einem Sanitärgeschäft ein Urinal, ein Pissoirbecken, betitelte es Fountain und signiert es mit dem Pseudonym «R. Mutt». Dieses Objekt wollte er in New York ausstellen. Doch es wurde zurückgewiesen und so zum Medienereignis. Heute ist bekannt, dass Fountain vermutlich ein Werk seiner Freundin, der Dada-Künstlerin Elsa von Freytag-Loringhoven war. Dies spielt im Ausstellungskontext durchaus eine Rolle. Denn die Wirkung ist eine andere, wenn bekannt ist, dass dieses männlich konnotierte Objekt von einer Künstlerin stammt. Doch das «originale» Werk ist ohnehin verloren und nur dank einer Fotografie von Alfred Stieglitz von 1917 überliefert.
Richard Hamilton, «Just what is it that makes today’s homes so different?», 1994, Farblaserdruck. Hamiltons Collagen von 1956 aus Bildern amerikanischer Zeitschriften wurden immer wieder reproduziert und legten den Grundstein für die Pop-Art.
Duchamp stellte seine anfänglich noch already made genannten Objekte erst ab den 1940er Jahren aus. Da einige verloren waren, liess er sie als Multiple reproduzieren. Mit seiner Signatur und Titelgebung avancierten diese zum Kunstobjekt, zum Readymade, das in Museen und Galerien Eingang fand und sich lukrativ verkaufen liess. Duchamp erkannte, dass durch die stark veränderte Lebensrealität der 1960er Jahre die Zeit reif war, sich vom traditionellen Kunstverständnis abzugrenzen. Und mit dem Aufkommen der Pop Art bekam seine Arbeit Anerkennung.
Andy Warhol (1928-1987), Brillo Soap Pads (Pasadena Type), 1964-1969, Acrylic and silkscreen on wood. Foto: KMW, 2024 ProLitteris
Ab 1964 führte Andy Warhol mit den Brillo-Schachteln das Post-Readymade ein. Die Pop Art Künstler der frühen 1960er Jahre unterscheiden sich von den Avantgardekünstlern der 1910er Jahre durch das Aufkommen der Massenproduktion von erschwinglichen Gebrauchswaren, die das Leben veränderten. Konsumgüter waren nun allgegenwärtig. In Supermärkten platzsparend gestapelt und verpackt, das Verpackungsdesign als Werbeträger. Die neue Ästhetik drängte über den Konsum in die bildende Kunst und veränderte sie formal und inhaltlich. Die künstlerische Originalität verlor ihre Autorität.
John M. Armleder (*1948 Genf), «Don’t do it», 1997-2021. Eine Reihe emblematischer Readymade-Objekte anderer Künstler.
Zur Entwicklung der Readymades gehörten auch die Appropriationen, die Aneignung von Werken anderer Künstler. Schon früh eignete sich Elaine Sturtevant (1924-2014) Werke ihrer männlichen Kollegen an, welche die New Yorker Kunstszene seit den 1940er Jahren dominierten, wie 1973 Duchamps Fountain. Sie reproduzierte 1965 auch Andy Warhols Serie Flower Paintings unmittelbar nach deren Herstellung. Warhol hatte nichts dagegen.
Felix Gonzalez-Torres, «Untitled» (Welcome Back Heroes), 1991. 35’000 am Boden ausgelegte Bazooka Kaugummis, die an die Kindheit erinnern. Doch «Bazooka» bezieht sich auch auf die gleichnamige Waffe der US-amerikanischen Streitkräfte.
Die Kritik am Kapitalismus setzte in den 1970er Jahren auch in der Kunst ein. Mit den White Cubes etablierten Galerien in New York eine Ausstellungs- und Verkaufsplattform, die auch für Boutiquen und Luxusgeschäfte stilbildend wurde. Und unter dem Einfluss der Wirtschaftskrisen und des Irakkriegs verschärfte sich der Ton. So bezieht sich Gonzalez-Torres (1957-1996) in seinem Werk Untitled» (Welcome Back Heroes) konzeptuell vielschichtig auf die menschlichen Tragödien durch Kriege. Er legt mit 35’000 Bazooka Kaugummis einen Teppich auf den Boden mit der Aufforderung ans Publikum, einen Kaugummi mitzunehmen. Die schönen Kindheitserinnerungen sind vordergründig. Doch die Bazooka ist auch eine tödliche Waffe der US-amerikanischen Streitkräfte, die, 1942 erfunden, seit dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt wird.
Sylvie Fleury, (Gold) Fountain LKW, 2003, Glasiertes Porzellan. Foto: KMW
Silvie Fleury hinterfragt mit ihren harmlos scheinenden Werken die männerdominierte Kunstwelt. Sie verwandelt eindeutige Attribute der Männlichkeit in glamouröse Objekte und verleiht ihnen so eine Ambivalenz. In ihrem Werk (Gold) Fountain LKW gestaltet sie einen Lastwagenreifen in einen goldenen Springbrunnen um und erinnert an Duchamps Fountain von 1917. Fleury wurde durch ihre Shopping Bags bekannt. In diesen verschiebt sie den Kontext von Mode- und Luxuswaren und veranschaulicht die Absurdität von Konsum- und Warenfetisch.
Fotos: rv und Kunst Museum Winterthur
Bis 17. November 2024
«Form Matters, Matter Forms. Vom Readymade zum Warenfetisch». Im Kunst Museum Winterthur / Beim Stadthaus
Die Beiträge von Ruth Vuilleumier lese ich immer besonders gern. Ganz einzigartig, ihre differenzierten Infos zu den Ausstellungen. Danke!
Cécile Stadelmann, Kunstschaffende