Nachdem Sujos Vater, ein mexikanischer Kartellschütze, getötet wird, wächst der Junge abgeschieden bei seiner Tante auf. Als er heranwächst, bleibt der Schatten des kriminellen Milieus eine ständige Bedrohung, selbst als er versucht, seinen eigenen Weg zu finden. Mit «Hijo de Sicario» schufen die beiden mexikanischen Regisseurinnen Astrid Ronero und Fernanda Valadez ein eindrückliches, allgemeingültiges Gleichnis.
Mit Radiomusik und Spielzeug lässt sein Vater Sujo stundenlang auf dem Rücksitz des Autos in der Hitze Michoacáns ausharren, während er seinem Geschäft nachgeht: Josue lässt Menschen verschwinden. Das kostet ihn, den «Verräter», schliesslich selbst das Leben und rückt den vierjährigen Waisen in den Fokus des Kartells. Nur dank seiner Tante Nemesia entgeht er dem lokalen Drogenboss. Sie nimmt ihn in ihr bescheidenes Haus, wohl wissend, dass der Junge sich nie mehr in der Stadt blicken lassen darf. Unter ihren wachsamen Augen erlebt er eine Kindheit in Verbundenheit mit den Büchern seiner Tante sowie der zauberhaften Natur des mexikanischen Hochlandes, abgeschottet, aber auch geschützt vor dem langen Arm der Mafia. Mit den Jahren erwacht in Sujo ein rebellischer Geist, und Fragen um seinen Vater lassen ihn heimlich weitere Kreise ziehen. Zusammen mit seinen Cousins und einzigen Freunden Jeremy und Jai kommt er dem Kartell wieder gefährlich nahe, und die Situation spitzt sich so zu, dass Nemesia ihn in den nächsten Bus nach Mexiko-Stadt setzt, um ihn erneut in Sicherheit zu bringen. Fortan schuftet der Teenager in den frühen Morgenstunden bei einem Gemüsehändler, wohnt in einer einfachen Bleibe und findet einen Weg, an den Vorlesungen der nahe gelegenen Hochschule teilzunehmen, wo er sich mit der Literaturprofessorin Susan anfreundet. Just als Sujo beschliesst, einen entscheidenden Schritt zu wagen, taucht Jai vor seiner Tür auf und droht, ihn zurück in die Vergangenheit zu ziehen. – Dies die vier Episoden der Haupthandlung, welche vielschichtige Nebenhandlungen bereichern.
Weil bei uns kaum jemand das mexikanische Kino kennt – eventuell noch Cuarón, Iñárritu oder Reygadas, kaum jedoch die neue, feminine Welle, zu der Astrid Rondero (1989) und Fernanda Valadez (1981) gehören – und weil uns die politischen Hintergründe wohl eher fremd sind, zitiere ich nachfolgend die Antworten der Filmemacherinnen auf Fragen von Meret Ruggle, trigon-Magazin Nr. 101, als Einstieg in die Thematik.
Mutter und Tante Nemesia
Astrid Rondero und Fernanda Valadez zum Film
Wen repräsentiert euer Protagonist Sujo in der heutigen mexikanischen Gesellschaft?
Sujo gab uns Gelegenheit, uns über das Leben und Schicksal Tausender Waisenkinder ein Bild zu machen, die in Mexiko unter den Folgen der Drogengewalt leiden. Das Phänomen der Drogenwaisen wurde bisher so wenig systematisch untersucht, dass die Zahlen schwanken, UNICEF schätzt 1,6 Millionen Kinder. Viele von ihnen sind inzwischen erwachsen. Fast zwei Jahrzehnte, nachdem in Mexiko der «Krieg» gegen den Drogenhandel ausgerufen wurde, gibt es eine Generation junger Menschen, die in dieser Realität geboren und aufgewachsen sind. Wir hatten viele Fragen, die uns dazu brachten, weiter zu recherchieren: Gibt es in Mexiko und der übrigen Welt Platz für junge Menschen, die im Umfeld der Gewalt geboren oder aufgewachsen sind? Wird ihr Leben durch ihre Herkunft bestimmt? Sollten wir die Opfer unterscheiden? Sind nicht auch die Kinder der Täter Opfer? Die Herausforderung dieses Films bestand darin, über diese Fragen anhand des Aufwachsens von Sujo zu sprechen. Vor allem aus der Literatur wissen wir, dass Geschichten von Waisenkindern es uns ermöglichen, über erschütternde Zeiten zu sprechen und sie mit Empathie zu betrachten. Mehr als Antwort wird es zur Frage. Der Zuschauer wird entscheiden, ob ein Junge wie Sujo sein Leben ändern kann oder nicht.
Wie steht es aktuell um die Situation des Drogenhandels in Mexiko, und wirkt sich dies auf die Kinder aus?
Unser letzter Film «Sin señas particulares» befasst sich mit einem Thema, das unserer Meinung nach eine Schlüsselrolle in dieser Krise spielt: die Zwangsrekrutierung. Mit ihm haben wir dieses Thema beleuchtet. Wir glauben, dass das organisierte Verbrechen die Verletzlichkeit bestimmter Sektoren ausnützt, um sie als Teil der Kriegsmaschinerie wie Wegwerfartikel zu missbrauchen. Im Zuge der Recherchen konnten wir mit Jugendlichen aus ländlichen Gemeinden sprechen und verstanden, dass die Rekrutierung oft erzwungen ist, denn meistens waren die Jugendlichen, die sich der organisierten Kriminalität anschlossen, am Rande der Gesellschaft, in einer Welt, in der es die einzig mögliche Gerechtigkeit durch Geld gibt. Der Drogenhandel bietet ihnen Arbeit, eine Vision der Gemeinschaft, von Macht und Geld. Viele von ihnen werden nicht älter als 30 Jahre. Die Konstruktion dieser Fata Morgana hat sich in der Kultur verankert.
In «Hijo de Sicario» stellen die Frauen die Personen dar, die Sujo am meisten unterstützen. Warum?
In Mexiko scheint es zwei Realitäten zu geben. Die eine ist das Mexiko des Drogenhandels, die andere das kosmopolitische Mexiko der grossen Hoffnungen. Die Frauen in diesem Film sind Teil dieses zweiten Mexikos, das nicht nur möglich ist, sondern auch existiert. Das wichtigste Beispiel sind für uns die «buscadoras», Gruppen von Müttern, die nach ihren verschwundenen Kindern suchen. Manche wurden Opfer von Gewalt, andere sind aber auch verschwundene Täter, viele mit eigenen Kindern, und alle mit Familien, die nach ihnen suchen. Diese Kollektive bilden die Grundlage für einen Friedensprozess. Sie repräsentieren die Zivilgesellschaft, die die Verantwortung für den gescheiterten Staat Mexiko übernimmt.
Literaturprofessorin Susan
Das Gleichnis über die Gewalt
Dass eine Geschichte allgemeingültig sei, wie oben erwähnt, ist schnell gesagt. Doch gültig wird sie erst, wenn hier wie dort die Menschen unter den gleichen Mechanismen leben. Das geschieht in diesem Film wie weltweit, denken wir an die Konfliktherde Vietnamkrieg, Jugoslawien, die Kriege in Israel/Palästina und der Ukraine. Ob die Lösung der Gewaltproblematik generell die Frauen sind, bleibt offen, in «Hijo de Sicario» scheint es offensichtlich. Es sind zwei Regisseurinnen, unterstützt von der Kamerafrau Ximena Amann, die den Film schufen. Und die Hauptfigur Sujo erhält in den Bergen Schutz von Tante Nemesia, in der Stadt Hilfe von der Literaturprofessorin Susan. Vielleicht hilft künftig auch die Tatsache, dass 2024 Claudia Steinbach die Präsidentin Mexikos wurde. Es sind offensichtlich die Frauen, die anders fühlen, denken und handeln als die Männer im Allgemeinen. Ist es dann nicht naheliegend, wenn einem dieser Film wie ein Gleichnis nahelegt, dass Frauen als Lösung auch anderer Konflikte sich anbieten?
Claudia Steinbach, Mexicos Präsidentin
Regie: Fernanda Valadez und Astrid Rondero, Produktion: 2024, Länge: 127 min, Verleih: trigon-film