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Dem Tod in die Augen geschaut

Mit «Gentleman über Bord» ist dem amerikanischen Schriftsteller Herbert Clyde Lewis ein bemerkenswertes Werk gelungen. In dem Roman rutscht ein US-Manager über Bord eines Frachters in den Pazifik und schaut, im Wasser treibend, dem Tod in die Augen. Das Theater Effingerstrasse zeigt eine Bühnenversion des späten Bestsellers.

Um aus seiner Lebenskrise herauszufinden, hat ein erfolgreicher New Yorker Geschäftsmann auf einem Hochsee-Frachter eingecheckt. Zusammen mit sieben weiteren Passagieren will er von Hawaii nach Panama fahren, auf hoher See sein inneres Gleichgewicht wiederfinden und gestärkt in den «Big Apple» zurückkehren.

Erfolgreich, aber unglücklich.

Frau und Kinder hat der Manager in New York zurückgelassen, ohne sie während seiner Auszeit wirklich zu vermissen. Ganz offensichtlich hat das Familienleben für Henry Preston Standish nicht mehr oberste Priorität. Und auch die Liebe zu seiner Ehefrau war schon mal tiefer und stürmischer.

Am siebten Tag der Überfahrt, an einem frühen Morgen, passiert das Undenkbare: An der Reling stehend, geniesst er das offene Meer sowie den Sonnenaufgang. Plötzlich rutscht er unter dem Geländer durch und fällt, von niemandem bemerkt, in den Pazifik. War es ein Misstritt, ein Unfall, ein Suizid, ein unglücklicher Zufall? Als Leser, als Zuschauer rätselt man.

Scham und Würde

Gleichzeitig erfährt man auf emotionale Weise, wie ein Mensch dem nahen Tod entgegensieht. Während sechzig Theaterminuten treibt Standish im offenen Pazifik. Der Frachter «S.S. Arabella» fährt derweil weiter und verschwindet langsam am Horizont. Gentlemanhaft setzt sich der Passagier in Seenot mit seinem Schicksal auseinander. Als er Hosen und Socken im Wasser auszieht, schämt er sich. Als ob ihn jemand sehen könnt. Ausserdem sorgt er sich, den Sonnenbrand zu bekommen.

Wunschdenken und Ablenkung: Gast in einer amerikanischen TV-Show.

Witzig sind Gedankenspiele, er werde nach seiner Rettung in die «Too Late Night Show» eingeladen. Dort, so die Hoffnung, könnte er den Sturz vom Frachter erklären und würde als Held gefeiert, überlegt er im Wasser schwimmend.

Doch nicht nur Belanglosigkeiten blitzen durch seinen Kopf. Was wohl Bekannte denken würden, wenn sie ihn sähen, fabuliert er. Was er ihnen erzählen würde, sobald man ihn retten würde. Viel würde der Protagonist geben, wenn er mit seiner Frau wiedervereinigt wäre und mit ihr schlafen könnte.

Frachter Arabella verschwindet

Anfänglich empfindet er Hoffnung auf Rettung und ist überzeugt, dass der Frachter Arabella umkehren wird. Denn er stellt sich vor, dass der finnische Koch sein Verschwinden bemerkt hat. Genüsslich träumt er vom Menu, das der Schiffskoch zubereitet. Alles nur Ablenkung. Keine Spur vom Frachter im Pazifik.

Mit der Zeit wachsen Zweifel an einer Rettung und mit diesen die Verzweiflung, doch laut schreien wäre gegen die Würde des Menschen, meint der Gentleman, während er gegen Wellen und Wind kämpft und Salzwasser schluckt.

Späte Entdeckung

Am Schluss machen sich Einsamkeit, Hilflosigkeit und Ohnmacht breit. Und einsichtige Überlegungen, was er nach einer Rettung besser machen würde als im ersten Leben.

Erstaunlich an dem 1937 erschienen Roman ist, dass er erst vor kurzem entdeckt und zum Bestseller wurde. Die deutsche Übersetzung erschien 2023.

Nun haben Theaterleiterin Christiane Wagner, die Berner Regisseurin Annina Dullin und Schauspieler Maximilian Kraus eine Bühnenversion geschrieben, die am Berner Effinger als Uraufführung gezeigt wird. Das Kostüm hat Sybille Welti komplettiert, das spärliche Bühnenbild stammt von Beni Küng.

Dramaturgisch ist der Monolog eine Meisterleistung. Maximilian Kraus beweist eine unglaubliche Verwandlungsfähigkeit und bestreitet den Abend im Alleingang. Zusätzlich zum Spiel sorgt er per Knopfdruck auch für die Musik und die Sound-Effekte.

Hoffnung und letzte Wünsche kurz vor dem Lebensende.

Nicht nur über Bord Gefallene beschäftigen sich mit dem zu Ende gehenden Leben und dem nahenden Tod. Auch Krebskranke, Schlaganfall- oder Herzinfarktpatienten oder Unfallopfer gehen in den letzten Minuten oder Stunden ähnliche Gedanken durch den Kopf. Mag sein, dass sie sich weniger gentlemanhaft benehmen. Aber alle dürften die Besonderheit des Augenblicks, letzte Wünsche und Hoffnung spüren. Wie Henry Preston Standish, der noch nicht bereit ist, zu sterben.

Zum Autor

Herbert Clyde Lewis (1909–1950 /Foto) wurde als zweiter Sohn russisch-jüdischer Einwanderer im New Yorker Stadtteil Brooklyn geboren. «Gentleman über Bord» war 1937 sein erster von vier Romanen. Ab 1939 wirkte er als Drehbuchautor in Hollywood und wurde 1948 für einen Oscar nominiert. Seine Ehe von 1933 ging in Brüche. Zweimal musste Lewis Insolvenz anmelden.

Dem Magazin «Newsweek» erzählte er, wie ihm die Idee zum «Gentleman»-Buch kam: Er habe 1936 auf dem Dach seines Appartements in Greenwich Village gestanden, nach unten auf das Treiben in den Strassen geschaut und sich gefragt, was passieren würde, wenn er abstürzte: «Wie würde ein Mensch diese schwindelerregende mentale Kluft zwischen der Sicherheit unter seinen Füssen und der Welt ‹da unten› überbrücken?» Um das herauszufinden, beschloss er, den Roman zu schreiben.

Zum Schauspieler

Maximilian Kraus (40) ist in München aufgewachsen und hat an der Zürcher Hochschule der Künste Schauspiel studiert. Von 2013 bis 2018 war er festes Ensemblemitglied am Theater Neumarkt in Zürich. Seither spielt er an verschiedenen Bühnen in der Schweiz, Österreich und Deutschland. «Gentleman über Bord» ist sein erstes Engagement am Theater an der Effingerstrasse.

Buchbesprechung von Maja Petzold auf Seniorweb:
Gentleman über Bord

Titelbild: Maximilian Kraus als Henry Preston Standish. Alle Fotos Severin Nowacki 2024.

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Theater Effinger Bern

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