Mit der Gruppenausstellung «Konzepte des All-Over» verabschiedet sich das Zürcher Museum Haus Konstruktiv von seinem Zuhause im ewz-Unterwerk Selnau, bevor es im Frühjahr 2025 ins Löwenbräukunst-Areal umzieht. Die Schau verbindet Farben, Formen, Licht und Architektur mit Installationen.
In eine der raumgreifenden Installationen tappt die Besucherin gleich zu Beginn. Der Erdgeschosssaal überrascht durch die vollständig schwarz-weiss-karierte Auskleidung: Wände, Fenster, Boden, Knitterskulpturen im gleichen Raster hängen von der Decke, sind an der Wand befestigt und auf dem Boden positioniert. Der Raum lässt einen fast schwindelig werden, verbunden mit dem Geruch von neuen PVC-Folien.
Esther Stocker, «A Space for Thoughts», 2024. Die regelmässige Rasterung sorgt für Ordnung und Klarheit, überfordert jedoch das menschliche Auge schnell. Fragen nach dem Verhältnis von Struktur und Verwirrung interessieren die Künstlerin.
Die Raumintervention A Space for Thoughts von Esther Stocker (*1974) veranschaulicht das Konzept des All-Over, «das Prinzip einer mehr oder weniger einheitlich-flächendeckenden Gestaltung eines Bildträgers, die sich potentiell über dessen Begrenzungen hinaus fortsetzen lässt», schreibt die Museumsdirektorin Sabine Schaschl im Saalblatt. «All-Over» bedeutet nicht nur «überall», sondern auch «alles vorbei», und bezieht sich doppeldeutig auf den Wegzug des Museums nach vierzig Jahren von seinem bisherigen Standort an der Sihl.
Carlos Cruz-Diez, «Chromosaturation», 1965/2024. Farb-Environment über drei Räume sowie geometrische Elemente in blauer, roter und grüner kinetischer Beleuchtung.
Auch die Lichtinstallation «Chromosaturation von Carlos Cruz-Diez (1923-2019) sorgt beim Eintreten, mit bereitgestellten Filzpantoffeln, für Schwindel. Zuerst nichts als eine lange weisse Wand vor Augen. Weiss in Weiss. Auf der Rückseite formen Trennwände drei Räume. Wie Dunst breitet sich farbiges Licht aus, Blau, Rot und Grün, überlagert und mischt sich. Die wechselnden Farben erzeugen optisch dreidimensionale «Lichtbilder». Die Betrachterin wird Teil der Installation und schaut fasziniert in das langsam sich verändernde farbige Licht, das ephemere konkret-geometrische Bilder hervorbringt.
Ana Montiel, «The Coritical Columns (deeping into our shared fictions)», 2024
Das künstlerische Schaffen von Ana Montiel (*1981) dreht sich ebenfalls um die Subjektivität menschlicher Wahrnehmung. Sie zeigt mit der Installation Synaptic Splendour, 2024, die Malerei und Videoarbeit umfasst, ihr Interesse an Neurowissenschaft und Phänomenologie. In der Rauminstallation The Coritical Columns (deeping into our shared fictions) bildet sie symbolisch kleinstteilige neuronale Strukturen des Gehirns nach. Die in vielfachen Schichten mit Acrylfarbe besprühten Leinwände erzeugen eine irisierend-verschwommene Wirkung. Die schmalen, vertikalen Paneele ummanteln die im Saal bestehenden Stützen und bedecken einen Teil der Wände. Je nach Blickwinkel und Lichteinfall erzeugt die Malerei ein unstetes Seherlebnis.
Christine Streuli, «Who pays the Bill», 2024, Ausstellungsansicht
Christine Streulis (*1975) Wandmalerei Who pays the Bill erstreckt sich über alle Wandflächen eines Raums. Ein Teil des All-Over zeigt schwarz-weisse Linienstrukturen mit bunten Farbfeldern. Ein anderer Teil ist bunt und energetisch aufgeladen oder wirkt expressiv-finster. Die abstrakten Kompositionen verdichten sich durch figurative Motive wie Faltfigürchen, Peace-Zeichen oder ein Globus-Icon. Das Panorama sei als Landschaft, als «Stimmungsbarometer» zu lesen, meint die Künstlerin. Die Stimmung der Betrachterin ist voller düsterer Assoziationen und verbindet das Geschaute mit gegenwärtigen Kriegsbildern und deren unkontrollierbaren Dynamik.
Reto Pulfer, «Erinnerungstempel der Zeitlosigkeit», 2015-2016, Acryl, Bleistift, Wasserfarbe auf Leinen
Das installative Setting Zustand Urgeflecht, 2024, von Reto Pulfer (*1981) ist durch einen engen Tunnel, eine schlauchartige Konstruktion aus Käseleinen, zugänglich. Die Folgeräume sind mit zusammengefügten Stoffen bestückt, «Träger von eigenen literarischen Textfragmenten, kryptischen Zeichen und Symbolen», die, nach der Idee des Künstlers, das prozesshafte Arbeiten als «Zustand» abbilden und den Raum erweitern. Mir erscheinen die textilen Objekte beim Besuch wie beschädigte Zelte, ausgebleichte Stofffragmente aus einem Flüchtlingslager, wie sie täglich in den TV-Nachrichten erscheinen.
Fritz Glarner, «Rockefeller Dining Room». Der Künstler hat 1963/1964 das Prinzip des «Relational Painting» zu einem Oll-Over erweitert, das Form, Farbe und Leben spannungsreich miteinander verwebt. Foto: © Museum Haus Konstruktiv
Wie ein Anker endet die Ausstellung im Herzstück der Sammlung des Hauses Konstruktiv, im Rockefeller Dining Room von Fritz Glarner (1899-1972). Die Rauminstallation aus Wand- und Deckengemälden aus den 1960er Jahren ist der Höhepunkt der Gruppenschau. Seit dem Einzug des Museums ins ewz-Unterwerk 2001 ist sie dauerhaft ausgestellt. Glarner ging von seinem System des «Relational Painting» aus, das aus Modulen von einseitig um 15 Grad angeschnittenen Rechtecken besteht. Diese Trapezformen unterschiedlicher Grösse, in den Primärfarben, Rot, Blau, Gelb sowie Schwarz und Weiss, fügte er so ineinander, dass ein ausbalanciertes Gefüge entstand. Durch die Spiegelung im Glastisch dehnt sich Glarners All-Over auf alle Seiten aus und wirkt wie ein Ruhepol aus der Vergangenheit.
Fotos: rv und Museum Haus Konstruktiv
Bis 13. April 2025
«Konzepte des All-Over», im Museum Haus Konstruktiv in Zürich
Ein Saalblatt liegt auf