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Die Faszination für das Meer

Unser Blick auf das Meer lässt sich derzeit im Musée Cantonal des Beaux-Arts von Lausanne auf vielerlei Weise schärfen. Eine Ausstellung zwischen Kunst und Kulturgeschichte zeigt, wie sich unsere Bilder vom Meer verändert haben.

«Thalassa! Thalassa!», dieser Titel fängt unsere Aufmerksamkeit ein: Es handelt sich um den Freudenschrei griechischer Söldner, die um 400 vor Chr. in Kleinasien herumirrten. Nach Schlachten gegen die Perser suchten sie den Heimweg, gelangten ans Meer, das auf Griechisch thalassa heisst. Es waren allerdings nicht die einheimischen Gewässer, die Aegäis oder das Ionische Meer, sondern das Schwarze Meer. Wir wissen so genau Bescheid, da der griechische Historiker Xenophon darüber berichtet.

François Bocion (1828–1890): Venise, 1882 Öl auf Leinwand. Lausanne, Musée cantonal des Beaux-Arts de Lausanne. Foto: Musée cantonal des Beaux-Arts de Lausanne

«L’imaginaire de la mer», d.h. wie wir uns das Meer vorstellen, welche Assoziationen wir mit dem Meer verbinden, darum geht es in dieser inhaltsreichen Schau. Unter drei verschiedenen Gesichtspunkten – Küsten, Tiefen, Abgründe – zeigen die beiden Kuratorinnen, wie sich unser Verhältnis zum Meer in den letzten beiden Jahrhunderten gewandelt hat. Ausgestellt werden Kunstwerke aus Europa, gegenständliche Kunst, keine abstrakten Werke, Exponate aus Zoologie und Botanik sowie Werke, die einen soziokulturellen Bezug zu Mensch und Meer aufweisen. Ergänzt werden die visuellen Objekte mit Auszügen aus der Literatur. In jedem Raum ist ein spezifischer Text zu hören, von Jules Michelet, Jules Verne und Georges Rodenbach.

Alphonse Osbert (1857–1939): Soir antique, 1908, Öl auf Leinwand; Paris, Petit Palais, Musée des Beaux-Arts de la Ville de Paris. CC0 Paris Musées/Petit Palais, Musée des Beaux-Arts de la Ville de Paris

Die grosszügigen Räume des erst wenige Jahre alten Museumsbaus erlauben grosszügige Ausstellungen: Während der erste Stock den Werken des 19. bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gewidmet ist, bietet der 2. Stock Künstlerinnen und Künstlern der Gegenwart Raum, ihre Vorstellungen zu präsentieren – in diesem Fall ein besonders gelungener Teil der Ausstellung.

«Wir wissen vom Meer, von seiner unendlichen Weite eigentlich sehr wenig», erklärt Kuratorin Catherine Lepdor, obwohl die Ozeane eine weit grössere Fläche bedecken als die Kontinente. Das Meer dient nicht nur als Ort der Erholung und des Abenteuers, es birgt grosse Reichtümer, Ressourcen für das Leben in allen seinen Formen. Die Ozeane sind stark gefährdet, das hätte uns schon längst zu einem Umdenken bewegen sollen. «Verklappen», d.h. allen Abfall, alles Unnütze von einem Schiff direkt im Meer zu versenken, diese Praxis war viel zu lange üblich auf grossen und kleinen Schiffen. Es ist nur eine der Ursachen der Verschmutzung.

Max Ernst (1891–1976): Gelbe Muschel, 1928, Öl, Graphit, Farbstift und Frottage auf Papier auf Leinwand. Privatsammlung © 2024, ProLitteris, Zürich

Unser Verständnis vom Meer und seiner Bedeutung hat sich verschoben, es ist pessimistischer geworden. Die Gefahren, denen die Meere ausgesetzt sind, sehen wir heute deutlicher, während man früher eher an die Bedrohung dachte, die das Meer für die Menschen bedeutete, sei es durch Ertrinken, durch Fluten oder Stürme.

Den beiden Kuratorinnen, der Chefkuratorin des MCBA Catherine Lepdor und Danielle Chaperon, Professorin für Französische Literatur an der Uni Lausanne, ist es hoch anzurechnen, dass sie wie selbstverständlich die Schönheiten des Meeres und die Umweltproblematik nebeneinander stellen, sichtbar, jedoch ohne plakativen Anspruch. Auf ähnliche Weise zeigen sie deutlich und diskret, wie sich die Rolle des Menschen in den Darstellungen des Meeres und der Küste verändert hat.

In der Romantik war der Körper einer schönen Frau am Strand das Objekt des Malers, später wurden Strand und Meer Urlaubsziele für das gehobene Bürgertum. Stets war die Küste und das Meer Arbeitsort für Fischer, Händler, Wäscherinnen. Symbolismus und später Expressionismus hoben das Geheimnisvolle des Meeres hervor.

Joseph Thomas Chautard (1821–1887): Sappho, 1850. Öl auf Leinwand. Ajaccio, Palais Fesch-musée des Beaux-Arts. Foto: © GrandPalaisRmn/Gérard Blot

Einen Blick in die Tiefen des Ozeans bietet ein weiterer Raum mit vielen teils wissenschaftlichen Darstellungen submariner Flora und Fauna. Es sind grafische und historische Dokumente. Eine Tauchkapsel ist auch dabei. Im 19. Jahrhundert begann man, die Tiefen des Meeres in Tauchgängen zu erforschen, denken Sie an Jules Vernes «20’000 Meilen unter dem Meer». Der Jugendstil nahm diese Formen als Inspiration für Ornamente aller Art. Besonders beeindruckt hat mich ein Video, das die Bewegungen eines Oktopusses zeigt – welche Schönheit liegt darin!

Jean-Francis Auburtin (1866–1930): Algen mit blauem Hai, 1897, Gouache auf Papier. Privatsammlung, Paris. Foto: Jean-Louis Losi, Paris

Im 21. Jahrhundert wird das Meer zum Forschungsobjekt. Die Menschen am Strand (Titelbild) hantieren mit den neuesten Instrumenten, das Bewusstsein für die Gefährdung ist präsent, wie Catherine Lepdor erklärt. Dieses Gemälde erscheint ihr als Gegenbild zum berühmten Bild von Caspar David Friedrich, der einen einsamen Mönch am Strand malte, versunken in Meditation über die Urgewalt des Meeres. (Das Bild ist nicht Teil der Ausstellung, aber weit bekannt. Hier klicken, um das Bild zu sehen).

Margaret Wertheim (*1958) und Christine Wertheim (*1958), Baden-Baden Satellite Reef, 2021-2022, Teil des Projekts Crochet Coral Reef [Gehäkeltes Korallenriff] von Margaret und Christine Wertheim und The Institute for Figuring. Mischtechnik: Wolle, verschiedene Natur- und Kunstfasern, Kunststoff, auf Holzsockeln. Museum Frieder Burda Baden-Baden. © Margaret Wertheim und Christine Wertheim

Der farbenfrohe Blickfang im oberen Stock ist das «Crochet Coral Reef», ein riesiges gehäkeltes Korallenriff, hergestellt von einer Frauengruppe in Zusammenarbeit mit dem Frieder Burda Museum in Baden-Baden, ein Symbol, das auf die Schäden aufmerksam macht, die der Mensch den fragilen Ökosystemen zufügt. Es ist ein authentischer Beitrag von Frauen, ein Gegenpol zu den passiven Frauenbildern auf älteren Gemälden.

Lubaina Himid (*1954): Accidental Encounter [Zufällige Begegnung], 2021; Acryl auf Leinwand. Lausanne, Musée cantonal des Beaux-Arts © Lubaina Himid. Photo: Musée cantonal des Beaux-Arts de Lausanne

Daneben finden wir u.a. eine Serie von Miriam Cahn, die sie Migranten gewidmet hat, die ihr Leben verloren haben beim Versuch, Europa übers Meer zu erreichen. Das führt uns zurück zum Titel der Ausstellung «Thalassa! Thalassa!»: Was für die erschöpften Griechen ein Freudenschrei gewesen sein muss, wird gegenwärtig oft ein Schrei der Verzweiflung.

Die Ausstellung wurde nach inhaltlichen Kriterien zusammengestellt, nicht nach der Berühmtheit der Künstlerinnen und Künstler. Anzuschauen sind unter anderem Werke von Arnold Böcklin, Alexandre Séon, François Bocion, Edward Burne-Jones, Jean-Francis Auburtin, Albert Marquet, Maurice Pillard-Verneuil, Jean Painlevé, Max Ernst, Man Ray, Marcel Broodthaers, Ad van Denderen, Lubaina Himid, Caroline Bachmann und Stefan Banz, François Burland, Miriam Cahn, Sandrine Pelletier; Margaret und Christine Wertheim, die das Projekt Crochet Coral Reef initiiert haben.

«Thalassa! Thalassa! Vorstellungswelten des Meeres» ist offen bis 12. Januar 2025 im Musée Cantonal des Beaux-Arts in Lausanne, Plateforme 10; 3 Minuten zu Fuss vom Bahnhof Lausanne entfernt. Mehr Informationen zur Ausstellung und dem Museum der Schönen Künste Lausanne.

Begleitpublikation: Danielle Chaperon und Catherine Lepdor, Thalassa! Thalassa! L’Imaginaire de la mer, Editions Octopus, 2024, 208 Seiten

Titelbild: Caroline Bachmann (*1963) und Stefan Banz (1961–2021); La longue vue, 2006. Öl auf Baumwolle. 145×315 cm. Caroline Bachmann und Nachlass Stefan Banz. ©Caroline Bachmann und Stefan Banz. Foto: Sun Jianwei und Christoph Eckert

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